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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0312
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Psychologie der Weltanschauungen

219

tes sind, über das hinaus er nicht sehen kann. Er verkriecht sich nicht in dem Gehäuse
einer bestimmten Werthierarchie und einer Lehre von notwendiger Entwicklung der
letzthin guten Welt. Er kann seinem Bewußtsein nach mit seinem ganzen Telos zu-
grunde gehen. Es kommt darauf an, daß er sich mit ganzer Kraft einsetzt, denn er kann
nicht darauf rechnen, daß es von selbst kommt, wenn er es nicht tut, und sei es das
Kleinste. Er kennt kein höchstes Gut als etwas Endgültiges, sondern das Leben muß
ihm erst zeigen und immer weiter zeigen, was er will, und was er kann. Das »höchste
Gut«, anerkannt, würde ihm ja das Leben vorwegnehmen. Er kennt auch nicht die »Be-
stimmung« und »Mission« eines Menschen. Hört er diese Begriffe, so scheinen es ihm
großartige Worte entweder für die Interessen derer, die sie brauchen, oder dafür, daß
sie zu einem spekulativen Entwicklungsweltbild passen, das der, welcher jene Worte
braucht, für objektiv und endgültig hält. Was »Bestimmung« ist, kann nur ich wählen
und wollen als ein objektiv immer endliches Telos, kann ich darüber hinaus als Glau-
bensinhalt haben, aber nur allzuleicht als geistige Gewalttätigkeit gegen andere benut-
zen. Dieser Mensch hat nicht so sehr Vertrauen in den Weltlauf, wie er von selbst ge-
hen wird, sondern in den menschlichen Willen, der die Welt gestaltet, zwar mit
jeweiligen konkreten Zielen, mit Ideen und schwankenden Utopien, aber letzthin
ohne Voraussicht der weiteren Zukunft, des Endziels. Er lebt und tut sein Teil, das er
sieht, aber | weiß nicht, was es mit dem Dasein auf sich hat, als nur das, daß es erstarrt, 229
wenn jemand ein Wissen davon vermeintlich hat und es direkt verwirklicht.

2. Die Grenzsituationen.
In den Wertkollisionen, die den Menschen zwingen, bei aller Wertbejahung auch Werte
zu vernichten, ist nur ein Fall gegeben von vielen, die für den Menschen das Dasein
ebensosehr als einen Prozeß der Wertschöpfung wie als einen Prozeß der Wertvernich-
tung erscheinen lassen. Diese Wertvernichtung und diese Hemmung der Entstehung
von Werten ist in unendlich mannigfaltigen konkreten Einzelsituationen erfahren.
Diese erscheinen dem einzelnen zunächst nicht als absolut notwendig, es könnte auch
anders sein. So sehr das für den handelnden Menschen auch zutrifft, er steht doch über
alle einzelnen Situationen hinaus in gewissen entscheidenden, wesentlichen Situatio-
nen, die mit dem Menschsein als solchem verknüpft, mit dem endlichen Dasein un-
vermeidlich gegeben sind, über die hinaus sein Blick nicht reicht, sofern der Blick auf
Gegenständliches in der Subjekt-Objekt-Spaltung gerichtet ist. Diese Situationen, die
an den Grenzen unseres Daseins überall gefühlt, erfahren, gedacht werden, nennen wir
darum »Grenzsituationen«.294 Deren Gemeinsames ist, daß - immer in der Subjekt-
Objekt-gespaltenen, der gegenständlichen Welt - nichts Festes da ist, kein unbezweifel-
bares Absolutes, kein Halt, der jeder Erfahrung und jedem Denken standhielte. Alles
fließt, ist in ruheloser Bewegung des in Fragegestelltwerdens, alles ist relativ, endlich,
in Gegensätze zerspalten, nie das Ganze, das Absolute, das Wesentliche.
 
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