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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0316
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Psychologie der Weltanschauungen

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1. Die Antinomien für das Denken und Erkennen.
Überall, wo das Erkennen auf das Ganze, das Letzte, das Unbedingte geht, entstehen -
so zeigte Kant - Antinomien als natürliche, unvermeidliche Täuschungen der Ver-
nunft.296 Ein drastisches Beispiel ist der Raum: wenn wir den Sternenhimmel betrach-
ten, so meinen wir wohl die Unendlichkeit unmittelbar zu sehen. Aber es ist nur eine
Stimmung und eine bloße Intention, denn wir sehen eine begrenzte flache Himmels-
schale mit mannigfaltig leuchtenden Punkten. Aber wir wissen von den astronomi-
schen Erfahrungen, den Messungen und den dadurch erreichten äußersten Horizon-
ten des Räumlichen. Diesen Tatsachen gehen wir gedanklich nach, projizieren all das
Wissen an den unmittelbar gesehenen Sternenhimmel, der dadurch erst seine Perspek-
tive gewinnt. Und wir denken uns hinter jedem erreichten Ende einen weiteren Raum,
aber wir bemerken, daß wir uns unwillkürlich bei der Erfüllung unserer Gedanken im-
mer wieder einen begrenzten Kosmos vorstellen. Wir können nicht anders als hinter
jedem erreichbaren Ende einen weiteren Raum denken, und wir können auch nicht
anders als von dem Ganzen der Welt zu reden, sie vorzustellen, als ob wir die Unend-
lichkeit zur Totalität abgeschlossen als ein Ganzes hätten. Wir können die Welt nicht
endlich anschauen und denken, und wir können sie nicht als unendlich uns zum Ge-
genstand machen, wenn wir es ernstlich, nicht bloß mit Aussprechen solcher Worte
tun wollen. Ein unendlicher Raum, wenn wir uns recht hinein vertiefen, erscheint uns
unmöglich, unausdenkbar, und ein endlicher erst recht. So mag mancher angesichts
des Sternenhimmels und seiner zugleich leibhaftigen und unvorstellbaren Unendlich-
keit in einen Schwindel der Gedanken und Gefühle kommen, die nur ein relativ harm-
loser Fall für die Antinomien sind, wie sie überall die Grenze unserer Welt bilden.
| Wenn widersprechende Sätze auftauchen, von denen der Widerspruch: die räum-
liche Welt ist unendlich und ist endlich, nur ein relativ einfaches Beispiel ist, so hat
der Satz des Widerspruchs im Kopfe des lebendig Denkenden eine dreifach mögliche Funk-
tion: der Satz des Widerspruchs kann erstens dazu dienen, die ganze Erkenntnis, die
Welt selbst als nichtig aufzuheben; so verfährt der Skeptizismus. Oder er kann zweitens
das Denken in Bewegung setzen, ihm Kraft des Fortschreitens geben. Denn wo der Wi-
derspruch ist, da ist der Stachel, das Interesse. Der Skeptizismus hat gelehrt, daß das
bloße Denken darüber ein Drehen im Kreise ist. Also reagiert das lebendige Erkennen,
indem es im konkreten Einzelnen erkennend voranschreitet, wobei diese Schritte im
Endlichen ihr Pathos von jener Grenze her bekommen. Nie wird das Ziel erreicht, aber
es sind durch die Antinomien Kräfte des Erkennens lebendig geworden, gerade ange-
sichts des Unendlichen, aber im Endlichen tätig. Diese Kräfte nennen wir seit Kant
»Ideen«: so ist die räumliche Welt als Ganzes Idee, nicht Gegenstand für uns, wie Ein-
zeldinge, weder endlich noch unendlich, aber unvermeidlich als beides gedacht.
Schließlich drittens kann der Satz des Widerspruchs, der bei den als Kräften wirksa-
men Ideen nicht bewußt ist, wenn er auch wirkt, selbst zum Gegenstand des Denkens
gemacht und ein philosophisches Weltbild der Antinomien an den Grenzen entwickelt

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