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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0324
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Psychologie der Weltanschauungen

231

kann die Aktivität aufs höchste erregen, aber diese Aktivität ist unlebendig, geradlinig.
Die Utopie als Gehäuse des Geistes tötet, weil das Antinomische vernichtet, die Entste-
hung des lebendigen Wachsens unterbunden ist. Der utopiengläubige | Mensch ist 243
selbst ein toter, wenn auch betriebsamer Mensch; und wo er wirkt, zerstört er, da alles
Lebendige nicht in die Utopie paßt. »Wo er hindenkt, da wächst kein Gras mehr.«304 Wo
er handelt, da ist alles öde, starr oder anarchisch geworden. -
Unter den lebendigen, echten Stellungen zu den Antinomien gibt es solche, die ei-
nen Ausdruck in einem antinomischen Weltbild finden, vor allem auch im Religiösen.
Wie überall geht auch hier der Weg dann schnell zur Erstarrung in festen Formen, die
zwar ihre Herkunft in den tiefsinnigen Formeln noch zeigen, jedoch nun als religiöse
Dogmen, als endliche Gehäuse für den Menschen bestehen, der sich seiner antinomi-
schen Situation noch gar nicht bewußt geworden ist. Von diesen antinomischen Welt-
deutungen seien einige bezeichnet:
Gerade bei Menschen höchster Lebendigkeit und persönlicher Kraft werden die Antinomien
als etwas Letztes genommen, nicht nur konstatiert, sondern verherrlicht und zur Welt an sich
verabsolutiert. Sie erleben die Gegensätzlichkeit als Quelle ihrer Kraft und sagen Ja dazu. In frü-
hen individualistischen Zeitaltern, in denen der Durchbruch der Individualität zuerst erfolgte
und darum nur Riesenmenschen Individuen zu sein vermochten, tritt diese Weltanschauung
auf. Joel?)305 hat eine Analogie in dem philosophischen Ausdruck der Vorsokratiker und der Re-
naissancephilosophen hierin gesehen. Die »kosmische Antithetik« ist beiden eigen. Heraklit
z.B. und Böhme306 »wollen beide das Leben und preisen darum den stachelnden Gegensatz, den
Leben hervorbringenden Streit«. Heraklit nennt ihn den Vater aller Dinge,307 auch Böhme
sagt: »Im Streit urständen alle Dinge; ohne den Streit wären alle Dinge ein Nichts und stünden
still ohne Bewegnis.«308
Das Antinomische wurde dann in irgendeiner Weise in fast alle Philosophien vom Charak-
ter der Systeme aufgenommen. Zuletzt ist Hegel hierfür ein Beispiel, wie er das Negative zum
Weltprinzip macht, wie er die Antinomien alle denkt, nicht lebt, sie denkend, nicht existierend
löst und sie zuletzt durch die Totalität, das Absolute überbaut. So vermag er in die geschlossene
Harmonie des Ganzen seines Systems die Zerrissenheit, die nihilistischen Bewegungen, alles
Antinomische aufzunehmen. Er hat es gelegentlich mit einer hinreißenden Gewalt dargestellt,
die etwa der Nietzsches nichts nachgibt.
Auch der größte Typus der Humanität, als unendlicher Entfaltung der Persönlichkeit zum
Harmonischen hin, Goethe, sah das Antinomische als etwas Letztes; aber charakteristisch ver-
absolutiert er es nicht zur Welt, sondern gewahrt es als eine Seite des »Dämonischen«“)309 und
brachte es in Beziehung zum Zufall, zur Willkür usw.
Vom lebendigen Menschen wird das Antinomische zwar nie überhaupt, aber immer wieder
im konkreten Einzelnen irrational überwunden. Es wird immer wieder »Einheit« erlebt, und ge-
rade die stärksten Anti|nomisten lehren in paradoxen Ausdrücken gern eine solche mystische 244
oder lebendige Einheit. Heraklit lehrte Gott als Einheit von Tag und Nacht, von Sommer, Win-

i Joel, Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik, 8off.
ü vgl. oben S. 194 [in diesem Band: 187-188].
 
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