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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0327
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234

Psychologie der Weltanschauungen

Öiamropä, und der Verstand hat nach Belieben die Wahl unter dem, was ihm gerade zur Hand ist
... (dem Ungeheuren, dem Lächerlichen usw.)«1).323
Während die »objektive Wahrheit«, die im Endlichen verharrt und die Totalität nie erreicht,
ohne Widerspruch sein kann und gleichgültig ist, ist die »subjektive Wahrheit« die eigentliche
Wahrheit, die des Existierenden, und findet ihren Ausdruck im Paradox: »Der Höhepunkt der
Innerlichkeit eines existierenden Subjekts ist Leidenschaft, ihr entspricht die Wahrheit als ein
Paradox; und daß die Wahrheit zum Paradox wird, beruht gerade auf ihrem Verhältnis zu einem
existierenden Subjekt«“).324
Ein Beispiel für die Wahrheit des Existierenden, die im Paradox gipfelt, ist in der Sphäre des
Erkennens Sokrates, der sagte: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Er läßt etwa auch die Unsterb-
lichkeit »objektiv problematisch dahingestellt sein: wenn es eine Unsterblichkeit gibt. Also war
er ... ein Zweifler? Keineswegs. Auf dieses >wenn< setzt er sein ganzes Leben ein, wagt er zu ster-
ben, und hat mit der Leidenschaft der Unendlichkeit sein ganzes Leben so eingerichtet, daß es
als annehmbar befunden werde - wenn es eine Unsterblichkeit gibt... Dagegen die, welche drei
Beweise haben, richten ihr Leben gar nicht danach ein ... Das >bißchen< Ungewißheit half
Sokrates, weil er selbst mit der Leidenschaft der Unendlichkeit nachhalf... Die sokratische Un-
wissenheit war so der mit der ganzen Leidenschaft der Innerlichkeit festgehaltene Ausdruck da-
für, daß sich die ewige Wahrheit zu einem Existierenden verhält und ihm deshalb, solange er
existiert, ein Paradox bleiben muß. Und doch ist vielleicht in der sokratischen Unwissenheit bei
Sokrates mehr Wahrheit als in der objektiven Wahrheit des ganzen Systems, die mit den For-
derungen der Zeit kokettiert und sich nach Privatdozenten richtet«"')-325
Als das »im strengsten Sinn Religiöse« erkennt Kierkegaard, »daß man auf das Paradox auf-
merksam wird und es in jedem Augenblick festhält, indem man gerade am allermeisten eine Er-
klärung fürchtet, die das Paradox entfernt. Denn das Paradox ist keine vorübergehende Form
24/ vom Verhältnis des im strengsten Sinne Religiösen zum Existierenden, sondern wesentlich | da-
durch bedingt, daß er ein Existierender ist, so daß die Erklärung, die das Paradox entfernt, zu-
gleich den Existierenden phantastisch in ein phantastisches Etwas verwandelt, das weder der
Zeit noch der Ewigkeit angehört; aber ein solches Etwas ist kein Mensch«i ii iii iv).326
Als ein solches Paradox erfaßt Kierkegaard das Christentum. Es ist das Paradox, daß Gott in
der Zeit ist, daß eine zeitliche, historische Erscheinung ewige Bedeutung hat, daß im Glauben
an dieses Paradox, an Jesus (für den Ungläubigen ein Ärgernis und eine Torheit) die Rettung
liegt. Es ist dem Christen »eine Seligkeit, in der äußersten Not der Existenz zu diesem Geheim-
nis, ohne es zu verstehen, nur ein Verhältnis des Glaubens zu haben«. Das Christentum will gar
nicht verstanden werden. Es hat sich als Paradox verkündigt, um vom Irrweg der Objektivität
zurückzuhalten. Es will bloß für den Existierenden da sein und wesentlich für in Glaubensin-
nerlichkeit Existierende. Diese Innerlichkeit kann nicht bestimmter ausgesprochen werden, als
wenn man sagt: Das Christentum ist das Absurde, das mit der Leidenschaft der Unendlichkeit
festgehalten wird. Das Maximum des Verständnisses für das Christentum ist, zu verstehen, daß
es nicht verstanden werden kannv).327

i 1. c. 6, 4off.
ii 6, 274.
iii 6, 277.
iv 6,258.
v 6,258.
 
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