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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0405
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312

Psychologie der Weltanschauungen

res Meinen dem »Wissen« als dem »gewiß Wissen« gegenüberstellt. Ein subjektives,
unsicheres Fürwahrhalten wird hier als Vorstufe, als das Minderwertige dem sicheren
Wissen untergeordnet. Nun ist es aber gerade das Geistige, daß es ein wesentliches,
dem Leben Halt und Sinn in der Totalität gebendes Wissen nicht festhalten kann, daß
alles in die wirbelnde Bewegung der unendlichen Dialektik gerät. Der Glaube ist nicht
eine Vorstufe zum Wissen, sondern ein Akt, der überhaupt erst auch die Bewegung zum
Wissen hin möglich und sinnvoll macht. Er ist das Umfassende, nicht ein Einzelnes,
nicht eine bloß vereinzelte Kraft und nicht ein einzelner Inhalt, nicht etwas spezifisch
Religiöses, sondern letzte Kraft des Geistes. Glaube ist Geist, darum nennen wir in die-
sem Sinne nicht Glaube die ruhige, selbstverständliche, unproblematische Gewißheit
in einzelnen Endlichkeiten, wie sie die unmittelbare Lebenskraft durch den Willen
zum Dasein solange hat, als es ihr einigermaßen gut geht. Mit dem Glauben ist dialek-
tischer Fluß, unendliche Problematik, Verzweiflung und Angst verbunden, weil allem
Leben des Geistes die nihilistischen Bewegungen ein Element und immer eine Mög-
lichkeit sind. Die Ungeistigkeit kann sich objektiv sicher in absoluten Gehäusen füh-
len. Der Geist kann in der Angst der Bewegung nur kraft des Glaubens existieren.
338 | Im Glauben lebt der Mensch subjektiv existierend, im Wissen erfaßt er etwas ob-
jektiv Geltendes. Die absolute Gewißheit in der subjektiven Existenz des Glaubens ist
zugleich immer in objektiven Formulierungen ungewiß: Mit dem Glauben ist immer
diese objektive Ungewißheit, dieses Unbeweisbare verbunden. Aber er ist zugleich si-
cherer als alle Beweise, was die Fähigkeit, dem Existieren Halt zu geben, angeht. Denn
bei allem objektiven Wissen ist der Mensch nie vor Zweifel bewahrt; es handelt sich
nur um den Grad der Entwicklung von Reflexion und Dialektik, dann wird ihm
schließlich, wenn er sich auf Objektives als auf ein Allerletztes verließ, alles genom-
men. Der Glaube bezieht sich auf Totalität und Absolutes, das Wissen kann sich im-
mer nur auf Endliches, Einzelnes, Relatives beziehen. Der Glaube ist eine Kraft der Per-
sönlichkeit, das Wissen wird ohne Leistung der Persönlichkeit in bloßer intellektueller
Arbeit als Objektives hingenommen. Der Glaube ist Ergriffenheit der ganzen indivi-
duellen Seele, das Wissen ist als überall einzelnes, für das Individuum in seiner Totali-
tät mehr oder weniger gleichgültig. Im Glauben erfährt der Mensch Sinn und Ziel, das
Wissen ist für die Seele als Ganzes letzthin nur Mittel.
Wenn der Glaube so als ein bloß subjektiver Vorgang allem objektiv Gegenständ-
lichen kontrastiert wird, so ist das Bild doch schief. Der Glaube als Phänomen des Le-
bens ist als Begriff paradox und nur in gegensätzlichen Bestimmungen zu umkreisen.
Er produziert fortwährend Inhalte, wirft sich auf konkrete Gegenständlichkeit, knüpft
das Einzelne an ein Unendliches. Die Kraft, Wertungen nicht bloß theoretisch, son-
dern existentiell vollziehen zu können, vor allem die Ideen sind identisch mit dem,
was hier allgemeiner als Glaube charakterisiert wird. Sie zeigen dasselbe doppelseitige
Wesen sowohl als subjektive Kraft wie als objektiver Inhalt (wenn auch nie des beweis-
baren Wissens) zu fassen zu sein, so daß die Definitionen unvermeidlich zwischen Sub-
 
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