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Psychologie der Weltanschauungen
nung alles Wißbaren, alles rational Formulierbaren findet der Mensch für seine glau-
34 o bende Beziehung zum Absoluten, sofern er Inhalte setzt, nur den Ausdruck | paradoxer
Art, der den Verstand verneint, zu einem sacrificio del intelletto zwingt. Zu paradoxen
Inhalten werden solche der beiden folgenden Typen herangezogen, die keineswegs im-
mer und ursprünglich als solche Paradoxien gemeint sind.
2. Das Absolute wird in Form eines Mythus gedacht. Das Absolute ist unendlich und
zugleich einmalig, individuell, genau so wie das Individuum der Welt in Subjekt-
Objektspaltung, das im Verhältnis zum Absoluten endlich ist: Es ist doch für die ratio
unendlich und als Individuum unerkennbar. Das Erkennen trifft immer nur Allgemei-
nes, und die Erkenntnis des Individuums ist nur der Weg der Anwendung von
Allgemeinheiten. Als Individuum ist es nicht für die Erkenntnis, sondern nur für me-
taphysisches Erleben da. Plato trennte darum dem Sinne nach scharf die Erkenntnis,
die gewiß sei, und sich nur auf Allgemeines bezieht, und die Erkenntnis, die ungewiß,
bloß wahrscheinlich ist, und sich auf das Geschehen, Werden, das Individuelle, Ein-
malige bezieht. Diese letztere kann nicht in Form des Begriffs, sondern nur der mythi-
schen Erzählung gegeben werden. Solche plausiblen Mythen (e'iKÖrec yüdoi) erzählt er
darum überall, wo von der Welt als Werden die Rede ist. Darin scheint eine dauernde
Einsicht gewonnen, die auf mannigfach andere Weise formuliert werden mag, aber
unvermeidlich irgendwie wiederkehrt.
Der Glaube, der sich in Mythen einen Inhalt setzt, wird Gnosis: Ob ein metaphy-
sischer Weltprozeß oder ganz anschauliche Erzählungen vom Fall der Engel, Kampf
der Geister usw. gegeben werden, immer bestehen für den glaubenden Menschen hier
Inhalte, die seine Seele lebendig ergreifen oder Ausdruck seiner glaubenden Einstel-
lung sind. Die Mythen, so lange sie echt sind, sind konkret, nicht bloß symbolisch (als
Gegenstand für Dichter) gemeint. Symbolisches und wörtliches Verstehen fließen dem
Glaubenden ineinander: Er zweifelt nicht, denn er erfährt in seiner Lebensgesinnung,
in seinen Entscheidungen und Handlungen die Kräfte, die möglich sind, wenn die
Symbole nicht bloß Symbole, sondern Wirklichkeiten wären.
Immer aber besteht hier die Grenze, die überall in der Entwicklung überschritten
wird: Zwischen dem Glauben als Kraft, der sich in solchen Symbolen ausspricht, und
dem entarteten Wissen, für das die Beziehung zum Absoluten zu einer bloß wissenden
Beziehung, zu einer Art der Betrachtung geworden ist. Die Dogmatik der Kirchen, die
theologische Arbeit, die metaphysische Spekulation behandeln die Sphäre, als ob es
ein Wissen sei, und es bildet sich die riesige Welt solcher Inhalte, die vom Standpunkt
psychologischer Betrachtung nur noch als ein vermeintliches Wissen da sind, die der
341 zersetzenden Kritik rettungslos verfallen und, wenn sie auch vermöge | ihrer ursprüng-
lichen lebendigen Quellen als Symbole einen tiefen Eindruck immer wieder erwecken,
doch nichts mehr übrig lassen, wenn die lebendige Kraft des existentiellen Glaubens,
die einst dahinter stand, nicht mehr da ist. Die glaubende Gnosis entartet in verend-
lichendem und phantastischem Wissen. So entsteht zu allen Zeiten, was heute »Theo-
Psychologie der Weltanschauungen
nung alles Wißbaren, alles rational Formulierbaren findet der Mensch für seine glau-
34 o bende Beziehung zum Absoluten, sofern er Inhalte setzt, nur den Ausdruck | paradoxer
Art, der den Verstand verneint, zu einem sacrificio del intelletto zwingt. Zu paradoxen
Inhalten werden solche der beiden folgenden Typen herangezogen, die keineswegs im-
mer und ursprünglich als solche Paradoxien gemeint sind.
2. Das Absolute wird in Form eines Mythus gedacht. Das Absolute ist unendlich und
zugleich einmalig, individuell, genau so wie das Individuum der Welt in Subjekt-
Objektspaltung, das im Verhältnis zum Absoluten endlich ist: Es ist doch für die ratio
unendlich und als Individuum unerkennbar. Das Erkennen trifft immer nur Allgemei-
nes, und die Erkenntnis des Individuums ist nur der Weg der Anwendung von
Allgemeinheiten. Als Individuum ist es nicht für die Erkenntnis, sondern nur für me-
taphysisches Erleben da. Plato trennte darum dem Sinne nach scharf die Erkenntnis,
die gewiß sei, und sich nur auf Allgemeines bezieht, und die Erkenntnis, die ungewiß,
bloß wahrscheinlich ist, und sich auf das Geschehen, Werden, das Individuelle, Ein-
malige bezieht. Diese letztere kann nicht in Form des Begriffs, sondern nur der mythi-
schen Erzählung gegeben werden. Solche plausiblen Mythen (e'iKÖrec yüdoi) erzählt er
darum überall, wo von der Welt als Werden die Rede ist. Darin scheint eine dauernde
Einsicht gewonnen, die auf mannigfach andere Weise formuliert werden mag, aber
unvermeidlich irgendwie wiederkehrt.
Der Glaube, der sich in Mythen einen Inhalt setzt, wird Gnosis: Ob ein metaphy-
sischer Weltprozeß oder ganz anschauliche Erzählungen vom Fall der Engel, Kampf
der Geister usw. gegeben werden, immer bestehen für den glaubenden Menschen hier
Inhalte, die seine Seele lebendig ergreifen oder Ausdruck seiner glaubenden Einstel-
lung sind. Die Mythen, so lange sie echt sind, sind konkret, nicht bloß symbolisch (als
Gegenstand für Dichter) gemeint. Symbolisches und wörtliches Verstehen fließen dem
Glaubenden ineinander: Er zweifelt nicht, denn er erfährt in seiner Lebensgesinnung,
in seinen Entscheidungen und Handlungen die Kräfte, die möglich sind, wenn die
Symbole nicht bloß Symbole, sondern Wirklichkeiten wären.
Immer aber besteht hier die Grenze, die überall in der Entwicklung überschritten
wird: Zwischen dem Glauben als Kraft, der sich in solchen Symbolen ausspricht, und
dem entarteten Wissen, für das die Beziehung zum Absoluten zu einer bloß wissenden
Beziehung, zu einer Art der Betrachtung geworden ist. Die Dogmatik der Kirchen, die
theologische Arbeit, die metaphysische Spekulation behandeln die Sphäre, als ob es
ein Wissen sei, und es bildet sich die riesige Welt solcher Inhalte, die vom Standpunkt
psychologischer Betrachtung nur noch als ein vermeintliches Wissen da sind, die der
341 zersetzenden Kritik rettungslos verfallen und, wenn sie auch vermöge | ihrer ursprüng-
lichen lebendigen Quellen als Symbole einen tiefen Eindruck immer wieder erwecken,
doch nichts mehr übrig lassen, wenn die lebendige Kraft des existentiellen Glaubens,
die einst dahinter stand, nicht mehr da ist. Die glaubende Gnosis entartet in verend-
lichendem und phantastischem Wissen. So entsteht zu allen Zeiten, was heute »Theo-