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Psychologie der Weltanschauungen
fischer Glaube, b) Dieser tritt erst ein, wenn das Historische, eine Persönlichkeit, ein
Vorgang, absolut genommen wird und nun ein Glaube an diese Persönlichkeit - die
eine ist oder an deren Stelle doch eine begrenzte Zahl, eine Auswahl tritt -, ein Glaube
an sie als an Gott oder an Absolutes wird; wenn, mit anderen Worten, das Absolute
und Unendliche als einmal an bestimmtem Ort zu bestimmter Zeit inkarniert geglaubt
ist. Das Historische wird nun zum Stellvertreter des Mythus, vollkommen gleichwer-
tig und oft mit dem Mythus in eins gebildet, c) Wenn dieser naive Glaube sich selbst
durchsichtig und reflektiert wird, so sublimiert er sich zu einem Paradox (wie Kierke-
gaard es schildert): Die Beziehung eines Endlichen zu einem anderen Endlichen soll
etwas Absolutes sein. Das Undenkbare, das allem Denken Widersprechende, daß ein
Historisches Ausgangspunkt für die ewige Seligkeit werden soll, wird als eine Weise,
die ratio zu vernichten, »absurder« Glaubensinhalt.441
Aller gegenständliche Inhalt des Glaubens, sofern er nicht innerhalb der Subjekt-
Objektspaltung in konkreter Situation als ein Endliches für die Existenz in der Bewe-
gung des Geistes leibhaftig ist, sondern das Absolute selbst sein will, führt den Men-
schen schnell in die Sackgassen fester Gehäuse und, wenn er sich daran hält, in die
Gefahrvollkommenen Nihilismus, sobald Dialektik und Reflexion sich seiner bemäch-
tigen. Daß aber der Glaube wesentlich die Kraft in diesem Leben und nicht ein über-
sinnlicher Inhalt ist, das macht ihn bezüglich seiner objektiven Inhalte unsicher, un-
gewiß. Der Glaube ist ein Leben bei intellektueller Skepsis auf Grund der Kraft: das
Leben zu führen, daß es wahrhaft und sinnvoll ist, falls solche Glaubensinhalte gel-
ten. Es ist vielmehr der Akt des Glaubens als das Hinnehmen eines Inhalts, was den
Geist ausmacht. Daß gerade diese Unsicherheit alles Inhalts für uns endliche Wesen
343 das einzige | Mittel ist, uns zur Geistigkeit, zur Gesinnung und zur Kraft zu bringen,
hat in großartiger Weise Kant gezeigt: Würden »Gott und Ewigkeit mit ihrer furcht-
baren Majestät uns unablässig vor Augen liegen (denn, was wir vollkommen beweisen
können, gilt in Ansehung der Gewißheit uns so viel, als wenn wir uns durch den Au-
genschein versichern)«, so würde das Verhalten des Menschen »in einen bloßen Me-
chanismus verwandelt«. »Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das
Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen gesche-
hen sollen, durch kein Gebot mit beeinflußt werden kann, der Stachel der Tätigkeit
hier aber sogleich bei Hand, und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst em-
porarbeiten darf... so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur
wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen ... Nun, da es mit uns ganz
anders beschaffen ist, da wir, mit aller Anstrengung unserer Vernunft nur eine sehr
dunkele und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Da-
sein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt,
dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen,
oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese
Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch, Aussich-
Psychologie der Weltanschauungen
fischer Glaube, b) Dieser tritt erst ein, wenn das Historische, eine Persönlichkeit, ein
Vorgang, absolut genommen wird und nun ein Glaube an diese Persönlichkeit - die
eine ist oder an deren Stelle doch eine begrenzte Zahl, eine Auswahl tritt -, ein Glaube
an sie als an Gott oder an Absolutes wird; wenn, mit anderen Worten, das Absolute
und Unendliche als einmal an bestimmtem Ort zu bestimmter Zeit inkarniert geglaubt
ist. Das Historische wird nun zum Stellvertreter des Mythus, vollkommen gleichwer-
tig und oft mit dem Mythus in eins gebildet, c) Wenn dieser naive Glaube sich selbst
durchsichtig und reflektiert wird, so sublimiert er sich zu einem Paradox (wie Kierke-
gaard es schildert): Die Beziehung eines Endlichen zu einem anderen Endlichen soll
etwas Absolutes sein. Das Undenkbare, das allem Denken Widersprechende, daß ein
Historisches Ausgangspunkt für die ewige Seligkeit werden soll, wird als eine Weise,
die ratio zu vernichten, »absurder« Glaubensinhalt.441
Aller gegenständliche Inhalt des Glaubens, sofern er nicht innerhalb der Subjekt-
Objektspaltung in konkreter Situation als ein Endliches für die Existenz in der Bewe-
gung des Geistes leibhaftig ist, sondern das Absolute selbst sein will, führt den Men-
schen schnell in die Sackgassen fester Gehäuse und, wenn er sich daran hält, in die
Gefahrvollkommenen Nihilismus, sobald Dialektik und Reflexion sich seiner bemäch-
tigen. Daß aber der Glaube wesentlich die Kraft in diesem Leben und nicht ein über-
sinnlicher Inhalt ist, das macht ihn bezüglich seiner objektiven Inhalte unsicher, un-
gewiß. Der Glaube ist ein Leben bei intellektueller Skepsis auf Grund der Kraft: das
Leben zu führen, daß es wahrhaft und sinnvoll ist, falls solche Glaubensinhalte gel-
ten. Es ist vielmehr der Akt des Glaubens als das Hinnehmen eines Inhalts, was den
Geist ausmacht. Daß gerade diese Unsicherheit alles Inhalts für uns endliche Wesen
343 das einzige | Mittel ist, uns zur Geistigkeit, zur Gesinnung und zur Kraft zu bringen,
hat in großartiger Weise Kant gezeigt: Würden »Gott und Ewigkeit mit ihrer furcht-
baren Majestät uns unablässig vor Augen liegen (denn, was wir vollkommen beweisen
können, gilt in Ansehung der Gewißheit uns so viel, als wenn wir uns durch den Au-
genschein versichern)«, so würde das Verhalten des Menschen »in einen bloßen Me-
chanismus verwandelt«. »Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das
Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen gesche-
hen sollen, durch kein Gebot mit beeinflußt werden kann, der Stachel der Tätigkeit
hier aber sogleich bei Hand, und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst em-
porarbeiten darf... so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur
wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen ... Nun, da es mit uns ganz
anders beschaffen ist, da wir, mit aller Anstrengung unserer Vernunft nur eine sehr
dunkele und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Da-
sein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt,
dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen,
oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese
Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch, Aussich-