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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0410
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Psychologie der Weltanschauungen

317

ten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt; so
kann wahrhafte sittliche ... Gesinnung stattfinden ... Also möchte es auch hier seine
Richtigkeit haben ... daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht
minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu-
teil werden ließ«1).442
3. Der Geist in seiner Beziehung zum Antinomischen und zum Mystischen.
Alle geistige Bewegung geschieht innerhalb der Subjekt-Objektspaltung. In dieser Spal-
tung sind überall Gegensätze herrschend: Die gegenständliche Welt und das subjek-
tive Wesen sind in antinomischer Struktur zerspalten. Die geistige Bewegung steht im-
mer in Beziehung zu Gegensätzen. Gegensatzlosigkeit wäre Tod oder Erstarrung. Der
Gegensatz ist das Lebenbedingende und die Erscheinung des lebendigen Geistes. Wie
alle physikalische Mannigfaltigkeit durch den Widerstand entsteht, so das geistige Da-
sein durch die Antinomie.
| Der Geist verhält sich zum Gegensatz wählend oder synthetisch. Er kommt nie an 344
eine absolute Wahl, für die die Welt an sich in zwei zertrennt wäre, und kommt nie zu
einer absoluten Synthese, die das Ganze und die Ruhe wäre. Der Geist hat das Pathos
des Entweder-Oder: alles Begrenzte, jedes Gebilde, alles was nach außen tritt, Wort und
Tat müssen sich auf die eine Seite eines Gegensatzes stellen; denn alles, was wir fassen,
ist gegensätzlich. Aber der Geist, für den Entweder-Oder irgendwo jeweils in konkreter
Situation eine Grenze ist, ist doch nicht die endlose Zerstückelung allen Wesens in zwei,
sondern er vermag alle lebendigen Gegensätze in sich zu enthalten. Die antinomischen
Situationen führen die Seele in Spannungen, Zerrissenheiten bis zu verzweiflungsvol-
len Krisen, aber das Leben läßt gerade daraus Kräfte erwachsen, die, in Antinomien ge-
steigert, zu Synthesen kommen, die unbegreiflich, neu, unendlich und darum un-
durchsichtig sind. Etwa in den Kategorien »schöne Seele«, »existierender Denker«,
»Genie« werden solche Synthesen gedacht. Aber die Synthese der Antinomien ist, wie
die Freiheit, nie erreicht, nie vollendet, sondern immer in Bewegung erworben, nur in
Bewegung vorhanden, hier allerdings auch gegenwärtig und erfahren.
Daß das Leben in der Synthese von Gegensätzen besteht, hat zur Folge, daß jede
Darstellung des Lebendigen unwillkürlich sich in dialektischer Vieldeutigkeit bewegt.
Alle Begriffe vom Geiste als lebendigem sind letzthin paradox und nach dem Satz des
Widerspruchs, formal beurteilt, widersinnig, wenn dieser Widersinn auch gerade
Wirklichkeit ist.
Vor allem aber hat die antinomische Synthese des Geistes zur Folge, daß aus sei-
nem Leben immerfort sich aus den Gegensatzpaaren die einzelnen Gegensätze ver-
selbständigen, und daß das Leben gleichsam auf einem schmalen Grat verläuft, zu des-
sen Seiten die Möglichkeiten in die Abgründe der losgelösten Isoliertheiten des Chaos

Kant, Kr. d. prakt. V. A. 265.
 
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