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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0412
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Psychologie der Weltanschauungen

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sehen den Wegen, die von ihm nach beiden Seiten führen. Hierbei wird unvermeidlich
mehr von diesen Abwegen als von dem schmalen Grate selbst zu sprechen sein. Dann
wird gefragt, ob man nicht auf dem | Grate selbst synthetische Gestalten unterschei- 346
den kann. Diese sind ja ihrem Wesen nach nie endgültig wirklich, nur Ideen. Es lassen
sich aber doch vielleicht - mit aller Einschränkung ihrer Bedeutung, da eben der un-
endliche Geist selbst nicht faßbar ist - einzelne Gestalten, die die lebendigsten, kom-
plexesten, dunkelsten von allen Geistestypen sind, hier sinnvoll charakterisieren. Nach
der Art der Realität, in der sie entscheidend leben, werden Realist, Romantiker, Heiliger
gegenübergestellt. Zuletzt wird das Mystische als Quelle und Ende des Geistes zu be-
trachten sein. Hier zeigt sich eine Polarität, die als Gegensatz des Weges der Idee zum Wege
einer Mystik im engeren Sinne bestimmbar scheint.

I. Der Geist zwischen Gegensätzen.
Der Geist ist innerhalb der Subjekt-Objektspaltung in zahllosen Gegensätzen paradox
zu charakterisieren: Er ist weder Subjekt noch Objekt, sondern beides, weder endlich
noch unendlich, weder Einzelnes noch Ganzes. Man kann ihn als Einheit von Ruhe
und Bewegung, von Werden und Dasein bezeichnen. Unter allen Gegensätzen erschei-
nen zwei von fundamentaler Wichtigkeit, da ihre Fähigkeit zur Charakteristik die
größte ist, auf sie lassen sich letzthin vielleicht alle Gegensätze zurückführen. Bevor
diese beiden im einzelnen problematisch entwickelt werden, seien sie allgemein cha-
rakterisiert:
1. Der Lebensprozeß verläuft in einer Antithese, die als der Gegensatz von Stoff und
Gestaltung, von Chaos und Form bekannt ist. Man ist wohl geneigt, die Fülle des Mate-
rials in ihrer Bewegung allein als Leben zu bezeichnen. So ist es chaotisch. Man ist auch
wohl geneigt, allein Maß, Grenze, Form, ratio, Askese als geistig anzusehen. Diese al-
lein sind tot und leer. Der Lebensprozeß ist ein Kampf dieser beiden Seiten, nicht ein
Kampf um die Macht, in dem der eine siegen müßte, sondern ein Kampf in der Rich-
tung der Synthese zu geformter Fülle. Immer wieder überwuchert die Fülle des mate-
riellen Lebens die Formen, und immer wieder bringen die Formen es zu Vergewalti-
gungen, Isolierungen, Mechanisierungen. Je nach der Phase des Lebensprozesses
entstehen Lehren, die sich für Maß, Grenze und Form, und Lehren, die sich für Unge-
bundenheit, Fülle, Leben, Chaos einsetzen (Naturalismus, Romantik neigen zu die-
sem, Klassizismus und Idealismus zum ersteren). Den Lebensprozeß sehen wir unter
diesem Gesichtspunkt als eine Bewegung gleichsam auf jenem schmalen Grate. Es ist
das Leben zwischen dem Chaos einerseits, der Form andererseits. Unter den Formen
ist zu finden: Das philosophische Weltbild des Maßes gegen die Maßlosigkeit. Es sind 347
weiter die Kräfte, die in der Selbstgestaltung, in der Askese, in jeder Grenzsetzung wirk-
sam sind. In allen Sphären sind diese Formen spezifisch, in der Gestaltung der Welt
des Aktiven, in der Kunst, in der ratio. Die rationale Form ist diejenige, die für uns am
 
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