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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0414
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Psychologie der Weltanschauungen

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bewegt zu sein, wenn auch fragmentarisch, ansatzhaft, abgebrochen. Es sind gerade
diese Gestalten das menschlich Erreichbare, der reine Typus aber Idee und Ideal. -
Der Prozeß der Antithese und Einigung von Persönlichkeit und Objektivität ist zu-
gleich ein Prozeß der Selbsterfahrung. Das Leben kann darum ein Prozeß der Selbster-
kenntnis genannt werden, die zugleich Welterkenntnis ist und umgekehrt. Isoliert sich
die Selbsterkenntnis, so wird sie inhaltslos, so erfaßt sie nur ein Chaos von Einzelhei-
ten und Zufälligkeiten, so ist sie nicht mehr Selbsterkenntnis, sondern Aufbau eines
künstlichen Gebildes von Äußerlichkeiten; isoliert sich die Welterkenntnis, so wird sie
abstrakt, leer. Beide zusammen als Prozeß, d.h. nie als wirkliche Identität, sondern als
fortwährende Opposition und Ausgleich, sind die Erscheinung des Lebensprozesses
der Kräfte in der Weltanschauung.

Das Leben zwischen Chaos und Form
(charakterisiert am Gegensatz des Rationalen und Irrationalen).443
Wenn man Nietzsche - ihn allerdings von Grund aus mißverstehend - als den nihi-
listischen Lehrer des Chaos, die katholische Kirche als das autoritative, allem Leben
Halt, Sinn und Form gebende universale Gebäude ansah, so hat man wohl die Behaup-
tung aufgestellt: letzthin müsse der Mensch zwischen Nietzsche und der katholi-
schen Kirche wählen. Dieses Entweder-Oder mag für viele einzelne Menschen charak-
terologisch richtig sein, es ist als ein Entweder-Oder für den Menschen überhaupt
falsch. Es gibt zwischen dem Nihilismus und dem Gehäuse, zwischen dem Chaos und
der Form ein Leben aus dem Ganzen des Unendlichen, das nicht kompromißlerisch,
halb und wesenlos ist. Auf dieses hinzuzeigen ist die Aufgabe.
Form ist alles Begrenzte im Gegensatz zum Endlosen, alles Bestimmte, alles Gehäu-
seartige im Gegensatz zum Stofflichen, Mate |hellen, Chaotischen, alles Feste im Ge- 349
gensatz zum Fließenden. Alles Wirkliche und Lebendige ist ein Ganzes aus Form und
Geformtem, aber nicht als ein Endgültiges, sondern als »geprägte Form, die lebend
sich entwickelt«.444 Darum spaltet sich fortwährend ab das Formlose, Chaotische ei-
nerseits, die fixierte, unbewegliche und die entleerte Form andererseits. Alle lebendi-
gen Gestalten können, wie oft charakterisiert wurde, sich formalisieren, d.h. des In-
halts sich entledigen: Es kommt dann nur auf die bloße Form an, auf die Bewegung als
solche, nicht auf ihren Inhalt und auf das, woran sie sich vollzieht. Die Artistik in der
Kunst, die Ethik formaler Pflichten, die rationale Betriebsamkeit als exakte Wissen-
schaft ohne wesentliche Erkenntnis sind breite Gebiete solcher Formalisierungen. Eine
der Arten von Formen ist die rationale, von der allein die Rede sein soll. Rationale For-
men sind die Grundsätze, Imperative, Lebenslehren, Begriffe von dem, was ist, was
sein soll, was wir hoffen können. Solche rationalen Formen, ohne die keine Ordnung,
kein Zusammenhang, keine Prüfung und Kontrolle besteht, setzt das Leben fortwäh-
rend aus sich heraus. Im Rationalen liegt eine formale Eigengesetzlichkeit der Konse-
 
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