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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0415
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Psychologie der Weltanschauungen

quenz und des Sichwidersprechens; nach dieser tendiert das Rationale, sowie es ir-
gendwo geschaffen ist, sich auszubilden, sich mit allem anderen Rationalen zu
konfrontieren und so den Zusammenhang zu suchen, der den Menschen in die Gren-
zenlosigkeit der unendlichen Dialektik führt, ohne die kein Leben ist. Bevor aber die-
ser letzte Schritt geschieht, fixiert sich das Rationale, irgendwo unbewußt den Zusam-
menhang abbrechend, in einem bestimmten, einzelnen Gehäuse. Diese sind so
unvermeidlich, daß auch die unendliche Dialektik selbst immer wieder als ein Ganzes
von Gehäusen auftritt.
Jede der weltanschaulichen Kräfte sucht sich schließlich in einer rationalen Lehre
auszusprechen. Diese rationalen Lehren sind der fruchtbarste Angriffspunkt für den
Betrachter; sie sind am leichtesten zugänglich. Sie sind der wesentliche Inhalt der Ge-
schichte der Philosophie. Aber diese rationalen Lehren sind als Ausdruck von Kräften
vieldeutig. Sie können z.B. Ausdruck des faktischen Lebens sein, das sie gleichsam ab-
spiegeln, oder im Gegenteil sind sie gerade Inhalte der Sehnsucht, der Forderungen
und Ziele, die der Realität des eigenen Lebens entgegengesetzt sind; sie sind einmal
Schöpfungen des Lebens und in Beziehung auf dieses zu verstehen, oder sie sind als
Gehäuse fixiert und geben allen Hineinwachsenden als von außen Kommende Ge-
präge und Halt (Plato und die Platoniker, Hegel und die Hegelianer sind etwas We-
sensverschiedenes); sie dienen zur Rechtfertigung und geben das gute Gewissen für
350 das, was ohnehin wirklich ist, oder sie fordern und wollen die Wirklich |keit umschmel-
zen; sie sind Ausdruck wirklicher Kräfte oder sie werden als bloße Mittel, als unechte
Gestalten und Masken benutzt, wobei der Mensch sich selbst und andere täuscht.
Dieser Vieldeutigkeit unbeschadet, auch gerade, um sie zu durchschauen, bleibt
dem Beobachter, der die weltanschaulichen Kräfte bestimmen möchte, als erster und
Hauptweg immer dieser: Da alles Begreifen von Weltanschauungen abhängig ist vom
Grade ihrer Rationalisierung, da wir von ihnen nur reden können, soweit sie rationale
Formen gefunden haben, fragen wir, wo uns nur irgendein Satz, ein Imperativ, eine
Wertung auffällt: Was ist die Voraussetzung dieses Satzes? und so fort, bis wir zu den
jeweils letzten Positionen kommen, die anzunehmen oder abzulehnen sind, für die es
aber für den rationalen Blick zunächst keine weitere Voraussetzung mehr gibt. Wäh-
rend wir so rückläufig zu den Prinzipien hin konstruieren, konstruieren wir zugleich
umgekehrt zu den Konsequenzen hin, und sehen so, was rational zu dem betreffen-
den Prinzip hinzugehört. Keineswegs werden die Weltanschauungen im Leben so an-
getroffen, daß sie einem oder wenigen Prinzipien und deren Konsequenzen entspre-
chen. Im Gegenteil, das Umgekehrte ist der Fall. Die Konsequenz ist nur eine rationale
Eigengesetzlichkeit, der zu folgen nur eine unter den Tendenzen des lebendigen Gei-
stes ist.
Durch das Verfahren der Konstruktion der weltanschaulichen Gehäuse nach dem
rationalen Satz des Widerspruchs scheint eine größte Trennung innerhalb aller welt-
anschaulichen Kräfte vorgenommen: Nur diejenigen Weltanschauungen sind auf sol-
 
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