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Psychologie der Weltanschauungen
2. Das Bemerken von Hemmungen und Umgestaltungen, die zunächst als zufällig,
als vermeidlich angesehen werden, führt, je vielseitiger sich die Weltanschauung ent-
faltet, zum Begreifen: daß es nicht geht, sie geradlinig, konsequent durchzuführen. Und
nun erfolgt die Trennung: die einen sehen das gewonnene Gehäuse in seiner Endlich-
keit und die Hemmungen als einzelne endliche (sie werden das absolut Wertvolle, ihre
352 Weltanschauung, dadurch be| wahren, daß sie rigoristisch konsequent werden in der
Überzeugung, durch diesen Rigorismus die Überwindung der Hemmungen doch zu er-
zielen, und in der Überzeugung, daß anderenfalls Untergang besser ist als Kompromiß;
oder sie werden gerade Kompromisse eingehen in der Überzeugung, auf andere Weise
dem Untergang zu verfallen, so aber langsam und indirekt im Laufe der Zeit - oft unter
Benutzung des Schlagworts des unendlichen Weges und oft unter Glauben an eine End-
vollendung - die reine, kompromißlose Weltanschauung doch noch zur Wirklichkeit
zu bringen). Die anderen kommen durch diese Erfahrungen nach vielem Kämpfen in
eine Krisis, die sie in Verzweiflung und in einen Zustand schöpferischen Neubeginnens
bringt. Die frühere Weltanschauung ist »überwunden«, ist nicht zerstört, sondern »auf-
gehoben« in dem doppelten Sinne des HEGELschen Sprachgebrauches: verneint und
bewahrt als Teilmoment. Und jetzt beginnt ein Prozeß der Entfaltung der neuen Kräfte
in der Wirklichkeit, die selbst sich nun ganz anders ansieht; und neue Gehäuse mit
neuen Ausgangspunkten wachsen mit der ihnen eigenen Konsequenz.
Wenngleich es im Grunde immer dieselbe unendliche Lebenskraft ist, die sich in al-
len Formen der Gehäuse wirksam zeigt, so sind doch retrospektiv nach geschehener le-
bendiger Entwicklung diese gestalteten Gehäuse - gleichsam wie die ausgeschiedenen
Schalen der Muscheln oder die Häute einer Schlange - in ihrer objektiven Gestalt der
Betrachtung zu unterwerfen. Diese Betrachtung wird innerhalb der einzelnen Gestalt
die logische Konsequenz suchen und so die Konstruktion aus Prinzipien erstreben. Aber
diese Konstruktion stößt an Grenzen bei den Prinzipien selbst und dann bei der Entfal-
tung der Konsequenzen in der wirklichen Welt. An diesen Grenzen sieht der Betrach-
ter ein logisch nicht begreifliches, psychologisch ein zum Teil, aber nie völlig verständ-
liches Umschlagen der Prinzipien, das eigentlich die Bewegung der lebendigen
Weltanschauung bedeutet. Die jeweiligen Prinzipien sind rational geformter Ausdruck
einer Kraft, die selbst mehr ist, da sie sich entfalten, umschlagen und in Krisen einen
Sprung machen kann. Die Konsequenzen eines Prinzips, das ganze jeweilige Gehäuse
können wir logisch durchsichtig vor uns hinstellen. Den Umschmelzungsprozeß zum
Neuen hin können wir aber nur als einen Vorgang hinnehmen, der eine letzte Lebens-
erscheinung, undurchsichtig und - im konkreten Fall - an gewissen Merkmalen als
echte Krisis, als lebendiger Prozeß zu vermuten, aber nie zu beweisen ist. Der Philosoph,
der es als seine Arbeit erfährt, ein Gehäuse - das er dann unvermeidlich als das einzige
353 ansieht - auszubauen, eine Lehre zu schaffen, in der sich | die Menschen wiedererken-
nen, weil geordnet, rational gesagt ist, was sie alle leben, dieser Philosoph hat als ober-
stes Prinzip: konsequent zu sein. Der Philosoph aber, dem gerade die Erfahrung in Kri-
Psychologie der Weltanschauungen
2. Das Bemerken von Hemmungen und Umgestaltungen, die zunächst als zufällig,
als vermeidlich angesehen werden, führt, je vielseitiger sich die Weltanschauung ent-
faltet, zum Begreifen: daß es nicht geht, sie geradlinig, konsequent durchzuführen. Und
nun erfolgt die Trennung: die einen sehen das gewonnene Gehäuse in seiner Endlich-
keit und die Hemmungen als einzelne endliche (sie werden das absolut Wertvolle, ihre
352 Weltanschauung, dadurch be| wahren, daß sie rigoristisch konsequent werden in der
Überzeugung, durch diesen Rigorismus die Überwindung der Hemmungen doch zu er-
zielen, und in der Überzeugung, daß anderenfalls Untergang besser ist als Kompromiß;
oder sie werden gerade Kompromisse eingehen in der Überzeugung, auf andere Weise
dem Untergang zu verfallen, so aber langsam und indirekt im Laufe der Zeit - oft unter
Benutzung des Schlagworts des unendlichen Weges und oft unter Glauben an eine End-
vollendung - die reine, kompromißlose Weltanschauung doch noch zur Wirklichkeit
zu bringen). Die anderen kommen durch diese Erfahrungen nach vielem Kämpfen in
eine Krisis, die sie in Verzweiflung und in einen Zustand schöpferischen Neubeginnens
bringt. Die frühere Weltanschauung ist »überwunden«, ist nicht zerstört, sondern »auf-
gehoben« in dem doppelten Sinne des HEGELschen Sprachgebrauches: verneint und
bewahrt als Teilmoment. Und jetzt beginnt ein Prozeß der Entfaltung der neuen Kräfte
in der Wirklichkeit, die selbst sich nun ganz anders ansieht; und neue Gehäuse mit
neuen Ausgangspunkten wachsen mit der ihnen eigenen Konsequenz.
Wenngleich es im Grunde immer dieselbe unendliche Lebenskraft ist, die sich in al-
len Formen der Gehäuse wirksam zeigt, so sind doch retrospektiv nach geschehener le-
bendiger Entwicklung diese gestalteten Gehäuse - gleichsam wie die ausgeschiedenen
Schalen der Muscheln oder die Häute einer Schlange - in ihrer objektiven Gestalt der
Betrachtung zu unterwerfen. Diese Betrachtung wird innerhalb der einzelnen Gestalt
die logische Konsequenz suchen und so die Konstruktion aus Prinzipien erstreben. Aber
diese Konstruktion stößt an Grenzen bei den Prinzipien selbst und dann bei der Entfal-
tung der Konsequenzen in der wirklichen Welt. An diesen Grenzen sieht der Betrach-
ter ein logisch nicht begreifliches, psychologisch ein zum Teil, aber nie völlig verständ-
liches Umschlagen der Prinzipien, das eigentlich die Bewegung der lebendigen
Weltanschauung bedeutet. Die jeweiligen Prinzipien sind rational geformter Ausdruck
einer Kraft, die selbst mehr ist, da sie sich entfalten, umschlagen und in Krisen einen
Sprung machen kann. Die Konsequenzen eines Prinzips, das ganze jeweilige Gehäuse
können wir logisch durchsichtig vor uns hinstellen. Den Umschmelzungsprozeß zum
Neuen hin können wir aber nur als einen Vorgang hinnehmen, der eine letzte Lebens-
erscheinung, undurchsichtig und - im konkreten Fall - an gewissen Merkmalen als
echte Krisis, als lebendiger Prozeß zu vermuten, aber nie zu beweisen ist. Der Philosoph,
der es als seine Arbeit erfährt, ein Gehäuse - das er dann unvermeidlich als das einzige
353 ansieht - auszubauen, eine Lehre zu schaffen, in der sich | die Menschen wiedererken-
nen, weil geordnet, rational gesagt ist, was sie alle leben, dieser Philosoph hat als ober-
stes Prinzip: konsequent zu sein. Der Philosoph aber, dem gerade die Erfahrung in Kri-