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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0418
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Psychologie der Weltanschauungen

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sen und Verzweiflung, der Einsturz eines Gehäuses, in dem alle leben, sichtbar wird, der
wird, sofern er nicht den großen Sprung in eine neue Welt vollendet, die logische Kon-
sequenz gar nicht als Hauptsache ansehen. Er wird vielmehr Irrationalist, Kritiker, Fra-
ger, und im Umschlag dann plötzlich Prophet sein. Er wirkt weniger durch seine Lehre,
durch welche der erste Philosoph ganzen Geschlechtern ihre rationalen Formen gibt,
sondern durch seine Existenz. Der erstere gibt Ruhe, Gewißheit und Fülle des Daseins,
der letztere ist der Erreger, der Infragestellende, der nur durch sein Dasein Vertrauen er-
wecken kann. Der erstere lenkt alle Aufmerksamkeit auf den Inhalt seines Werks, der
letztere, mag er wollen oder nicht, auf seine Persönlichkeit.
Das Resultat eines Umschmelzungsprozesses nennen wir eine antinomische Syn-
these, insofern sich für die Betrachtung der tatsächlich entstandenen Gehäuse (über
die wir im Grunde nie hinauskommen) das Folgende relativ zum Früheren als eine To-
talität darstellt, in der die Widersprüche, in die sich die frühere Weltanschauung ver-
wickelte, aufgehoben sind. Es ist keine formal-logische Synthese, die ein Kompromiß
ist, sondern eine psychologische, die einen neuen Ausdruck für Prinzipien findet, der
aus einer neuen Kraft kommt und sie zugleich stärkt, und frühere Widersprüche nicht
mehr - dafür bald neue - erleben läßt. Die Antinomien bleiben, sie haben nur ihre Kraft
der Neuschöpfung, wenn sie gleichsam als Reiz auf die Seele wirken, erwiesen. Im
Grunde werden keine Antinomien gelöst, sondern nur auf neuer Stufe wiedererkannt.
Es werden nur immer neue Gehäuse geschaffen.
Der Mensch lebt mit seinem ganzen Ernste nur, indem er jeweils sein Gehäuse ernst
und endgültig nimmt, an seiner Entfaltung mit ganzer Kraft arbeitet und erst an den
Grenzen, nach voller Durcharbeitung in der Realität, nach Erschöpfung gleichsam die-
ses Kraftimpulses, jene erschütternden Krisen erlebt, die zu neuen Impulsen führen.
Daraus ist nun ersichtlich, daß wir, außer der rationalen Konsequenz innerhalb ei-
nes Gehäuses, eine Konsequenz antinomischer Synthese in der Folge der Gehäuse-
schöpfung annehmen. Diese Konsequenz antinomischer Synthese, dieses Sichtreu-
bleiben der Kraft des lebendigen Geistes können wir nicht rational begreifen, sondern
nur unter Voraussetzung rationaler Mittel an den krisenhaften Umschlagsstellen des
geistigen Prozesses sehen. Der Gegensatz dieser | Konsequenz des geistigen Prozesses
ist das Chaos des zufälligen, immer neuen Handelns und Fühlens ohne Zusammen-
hang, nach Lust und Augenblick. Die antinomische Konsequenz hat dagegen das
Merkmal, bis zum Äußersten jedes Gehäuse durchzuarbeiten, sich zu eigen zu machen,
und in einer aufsteigenden Linie von Schöpfungen immer an einem Gehäuse zu arbei-
ten. Beim Chaos gibt es Wiederholung, Rückkehr, bei der antinomischen Konsequenz
gibt es nur Endgültiges und Überwundenes, und jedes Gegenwärtige ist unbedingt.
Das Leben des einzelnen konkreten Menschen baut sich aus allen dreien auf: dem
Verfahren logischer Konsequenz, dem chaotischen Neben- und Nacheinander und der
Umschmelzung in den Prinzipien. Je nach dem Vorwiegen einer dieser Möglichkeiten
lassen sich drei Typen menschlichen Daseins konstruieren:

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