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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0420
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Psychologie der Weltanschauungen 327
scheint der dämonische Mensch gejagt von einer Unendlichkeit zur anderen. Seine Ar-
beit - manchmal in rasendem Tempo - scheint nicht der Gestaltung des Gehäuses zu
dienen, an das er, als an ein endgültiges, glaubt, sondern nur dazu zu dienen, zur näch-
sten Station der Unendlichkeit zu kommen. Der Gegensatz der Entfaltung in endlicher
Gestaltung und der Rückkehr in den lebendigen Umschmelzungsprozeß ist bei ihm
aufs höchste gesteigert. Gerade die Spannung gibt auch seiner Arbeit am Endlichen eine
Wucht, die der konsequente Arbeiter nie erreicht, sie macht ihm wohl äußerste Vertie-
fung in die Breite zur Aufgabe und hastig erfüllten Pflicht, aber sie läßt ihn häufiger hin-
weggehen über weite Gebiete, die nicht dazu nötig sind, daß er die nächste Etappe er-
reiche. Sein aktives Handeln erfolgt immer aus der Totalität der Situation heraus und
ist daher nur bis zu einem gewissen Grade auf Formeln, auf rationale Berechnung zu
bringen. In solchen Menschen scheint die Gewalt jener Kreisbewegung auf das höch-
ste gesteigert. Sie faszinieren ihre Umgebung, die sie zu Führern nimmt, oder die sie
fürchtet und vernichtet als feindliche Kraft. Sie sind nie auf eine Formel zu bringen; sie
sind nie festzulegen als nur für eine konkrete Gegenwartsaufgabe, und sie sind doch
| von höchster Verantwortung entgegen der Verantwortungslosigkeit der Chaotischen.
Wohin ihr Weg führt, können sie nie wissen. Sie sind repräsentativ für ganze Folgen
von Generationen - wenn sie nicht geradezu als Gleichnis des Menschen überhaupt ge-
sehen werden dürfen.
Betrachten wir diese drei Typen, wie sie ihren Ausdruck in Eehren, Imperativen,
Rechtfertigungen finden, so lassen sie sich in folgender Weise anordnen: Das Erste,
Schaffende ist das heben als dämonisches. Die Lehre ist nicht festzulegen, in vielen
Formen sich selbst überwindend, drastisch und unbedingt im Einzelfall, ohne Nei-
gung zu systematischen Verallgemeinerungen. Dieses antinomische Leben hat auf sol-
che, die ihm nachfolgen wollen, also eine Lehre und Prophetie in ihm sehen, eine ent-
gegengesetzte Wirkung: Die einen, die rigoristisch Konsequenten, nehmen alles
wörtlich und verallgemeinernd. Dem dämonischen Leben Jesu z.B. folgt die Lehre der
»Nachfolge Christi« bis auf zufällige Einzelheiten im Äußerlichen, folgt ein Wörtlich-
nehmen aller Sätze, als ob sich danach für immer und allgemein leben lasse. - Die an-
deren, die Chaotischen, halten sich an das »Überwinden« des Dämonischen, leiten
ein Recht für alle Impulse, für das, was in jedem »wächst«, wozu er sich gedrungen
fühlt, ab, leben einfach den Bedürfnissen und Trieben ohne Disziplin und Formung;
so z.B. die libertinistischen Mystiker,445 die immer wieder im Christentum entstan-
den. - Damit sind aber die Möglichkeiten nicht erschöpft. Es tritt ein Sinn auf für das
Lebendige, der sich gegen den Rigorismus der konsequenten Nachfolge und gegen das
Chaos gleichzeitig wendet, ohne selbst dämonisch zu sein. Und nun wird eine Lehre
entwickelt, die Totalität will, die in riesenhaftem Gehäuse alle Antinomien und alle
Möglichkeiten verwahrt; es entwickelt sich im Christentum die Kirchenlehre, die vom
Standpunkt des Rigoristen kompromißlerisch, vom Standpunkt des Chaotischen ge-
walttätig, freiheitswidrig ist, vom Standpunkt des Dämonischen gesehen aber trotz al-

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