Psychologie der Weltanschauungen
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Sokrates, Kant, Nietzsche), während die Unlebendigeren, die es nicht als Irrweg
empfinden, riesenhafte Systeme | lehrend hinzustellen, Erzieher für die Massen der 358
Jahrhunderte werden (Aristoteles, im kleineren Maßstabe für Deutschland:
Melanchton,447 Christian Wolff,448 Hegel). Im bürgerlichen Leben gewinnt er kein
ruhiges Glück. In der Kunst steht der Versuch ihm näher als das fertige Werk, zu dem
er fast nie kommt (Lionardo),449 oder sind die Werke bewegte, über sich hinauswei-
sende Gebilde, einzelne Ausdruckserscheinungen seines Geistes; sie zeigen auf diesen
Geist, statt in sich geschlossen als Totalität zu wirken (z.B. im Vergleich Michelangelos
mit dem klassischen Raffael, welcher letztere einzigartige, erfüllte Ruhe, fast eine Se-
ligkeit beim Anschauen seiner Werke gibt, die kein Bedürfnis, keine Frage mehr übrig
lassen, als eben nur dieses Eine, daß alles fertig ist und das Leben zu Ende). Der Frag-
mentarische ist der eigentlich Dämonische, die anderen rücken dem Dämonischen
ferner in dem Maße, als sie ein Ganzes finden und ausdrücken. Es ist selbstverständ-
lich, daß der große Dämonische Gestalten bildet, die als Ganzheiten wirken können,
sie sind nur Fragmente, sobald man sie von der Intention, dem Willen des Schöpfers
aus sieht, und je mehr man sie in ihrer Tiefe und damit zugleich Unvollständigkeit ver-
steht: So sind Kants Werke riesenhafte Fragmente, und doch eine ganze Welt, voller
Widersprüche, Ausgangspunkt heterogener Möglichkeiten, von unendlicher Zeu-
gungskraft (wie alles Lebendige), von geringer Lehrkraft (die auswendiglernenden
Kantianer sind arme Figuren, welche durch die auswendiglernenden Aristoteliker oder
Hegelianer an Weite, Bildung, eben an Lernbarem, weit übertroffen werden).
Die rationale Form der Weltanschauung ist beim Dämonischen nie total, sondern,
dem Wesen des Rationalen entsprechend, begrenzt und relativ. Entgegen allem bloß
Rationalen, in Konsequenz Erstarrtem ist sie inhaltlich nie fertig und doch jederzeit
irgendwie unbedingt. Der dämonische Mensch ist zwar auf nichts endgültig festzule-
gen - so sehr er das von sich selbst verlangt -, und er lebt doch so, als ob er in jedem
Augenblick festgelegt sei. Entgegen dem chaotischen Leben haben die Stellungen,
wenn sie sich wandeln, in ihrer Folge nichts Zufälliges und Gleichgültiges, sondern
gehen auseinander hervor, wachsen, nicht im Kreise sich drehend, sondern spiralig
sich bewegend, so daß nichts wiedergebracht wird, was unwiederbringlich vorüber ist.
Da der Dämonische, sofern er im Medium des Rationalen sich bewegt, hier jederzeit
Geformtes nach außen setzt (Wertungen, Imperative, Weltbilder), so erfährt er auch
immer, daß das Rationale eine Eigengesetzlichkeit hat und erstrebt damit Konsequenz,
nicht mit geringerem Pathos als der Rigorist. Das geht so fort, bis in einer Krisis die
ganze Basis dieser Konsequenzen verschoben wird. Diese Krisis braucht kein plötzli-
ches Ereignis, sondern | kann ein den Prozeß der rationalen Formung begleitender Vor- 35p
gang sein. Denn es ist fast das Entscheidendste für die lebendigen Kräfte in allen Leh-
ren: Mit dem Bewußtwerden und dem Ausgesprochenwerden einer weltanschaulichen
Lehre ist die Kraft selbst eine andere geworden. Faktische Kraft und theoretisches Ge-
häuse sind insofern antithetisch, als sie sich eigentlich keinen Moment decken kön-
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Sokrates, Kant, Nietzsche), während die Unlebendigeren, die es nicht als Irrweg
empfinden, riesenhafte Systeme | lehrend hinzustellen, Erzieher für die Massen der 358
Jahrhunderte werden (Aristoteles, im kleineren Maßstabe für Deutschland:
Melanchton,447 Christian Wolff,448 Hegel). Im bürgerlichen Leben gewinnt er kein
ruhiges Glück. In der Kunst steht der Versuch ihm näher als das fertige Werk, zu dem
er fast nie kommt (Lionardo),449 oder sind die Werke bewegte, über sich hinauswei-
sende Gebilde, einzelne Ausdruckserscheinungen seines Geistes; sie zeigen auf diesen
Geist, statt in sich geschlossen als Totalität zu wirken (z.B. im Vergleich Michelangelos
mit dem klassischen Raffael, welcher letztere einzigartige, erfüllte Ruhe, fast eine Se-
ligkeit beim Anschauen seiner Werke gibt, die kein Bedürfnis, keine Frage mehr übrig
lassen, als eben nur dieses Eine, daß alles fertig ist und das Leben zu Ende). Der Frag-
mentarische ist der eigentlich Dämonische, die anderen rücken dem Dämonischen
ferner in dem Maße, als sie ein Ganzes finden und ausdrücken. Es ist selbstverständ-
lich, daß der große Dämonische Gestalten bildet, die als Ganzheiten wirken können,
sie sind nur Fragmente, sobald man sie von der Intention, dem Willen des Schöpfers
aus sieht, und je mehr man sie in ihrer Tiefe und damit zugleich Unvollständigkeit ver-
steht: So sind Kants Werke riesenhafte Fragmente, und doch eine ganze Welt, voller
Widersprüche, Ausgangspunkt heterogener Möglichkeiten, von unendlicher Zeu-
gungskraft (wie alles Lebendige), von geringer Lehrkraft (die auswendiglernenden
Kantianer sind arme Figuren, welche durch die auswendiglernenden Aristoteliker oder
Hegelianer an Weite, Bildung, eben an Lernbarem, weit übertroffen werden).
Die rationale Form der Weltanschauung ist beim Dämonischen nie total, sondern,
dem Wesen des Rationalen entsprechend, begrenzt und relativ. Entgegen allem bloß
Rationalen, in Konsequenz Erstarrtem ist sie inhaltlich nie fertig und doch jederzeit
irgendwie unbedingt. Der dämonische Mensch ist zwar auf nichts endgültig festzule-
gen - so sehr er das von sich selbst verlangt -, und er lebt doch so, als ob er in jedem
Augenblick festgelegt sei. Entgegen dem chaotischen Leben haben die Stellungen,
wenn sie sich wandeln, in ihrer Folge nichts Zufälliges und Gleichgültiges, sondern
gehen auseinander hervor, wachsen, nicht im Kreise sich drehend, sondern spiralig
sich bewegend, so daß nichts wiedergebracht wird, was unwiederbringlich vorüber ist.
Da der Dämonische, sofern er im Medium des Rationalen sich bewegt, hier jederzeit
Geformtes nach außen setzt (Wertungen, Imperative, Weltbilder), so erfährt er auch
immer, daß das Rationale eine Eigengesetzlichkeit hat und erstrebt damit Konsequenz,
nicht mit geringerem Pathos als der Rigorist. Das geht so fort, bis in einer Krisis die
ganze Basis dieser Konsequenzen verschoben wird. Diese Krisis braucht kein plötzli-
ches Ereignis, sondern | kann ein den Prozeß der rationalen Formung begleitender Vor- 35p
gang sein. Denn es ist fast das Entscheidendste für die lebendigen Kräfte in allen Leh-
ren: Mit dem Bewußtwerden und dem Ausgesprochenwerden einer weltanschaulichen
Lehre ist die Kraft selbst eine andere geworden. Faktische Kraft und theoretisches Ge-
häuse sind insofern antithetisch, als sie sich eigentlich keinen Moment decken kön-