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Psychologie der Weltanschauungen
sein, ohne ihn und vor ihm. Dieses zu wollen, ist sinnlos, weil unmöglich. Und was
Leben ist, was gefördert, was gehemmt werden soll, dafür gibt es gar keine Kriterien,
gar keine Rezepte, sofern man darin steht, sondern nur retrospektiv aus den Bewegun-
gen, Ausdruckserscheinungen, Leistungen, Taten heraus. Vorwiegend kann der Wille
zum Verharren im Endlichen, zur rationalen Konsequenz, zur mechanischen Arbeit
dienen. Vorwiegend also sieht man an ihm das Todbefördernde; aber er ist zugleich
eine der unvermeidlichsten Lebensbedingungen, da das Leben ein Gehäuse braucht,
wie der Leib ein Knochengerüst, das Weichtier eine Schale. So kommt diese Weltan-
schauung zu den entgegengesetzten Forderungen: man solle leben, man solle nicht
wollen - und man solle wollen. Ein Gegensatz, der psychologisch richtige Beobach-
tungen wiedergibt, aber inhaltlich gar keine Forderungen enthält, sondern ohne Im-
pulse läßt, sofern er nicht die Wirkung hat, die Menschen, die sich ihm hingeben,
chaotisch aufzulösen.
3. Diese Weltanschauung will Leben, aber sofern sie inhaltlich Forderungen auf-
stellt, gibt sie ein relativistisches Gehäuse mit einer absoluten Spitze, die faktisch fast
362 immer die Erhaltung der | gegenwärtigen Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft
und ihrer Bevorzugungen oder das volle Gegenteil, Utopie ist. Diese Weltanschauung
redet von Leben, ist aber tatsächlich die Weltanschauung von Dauerzuständen bei tra-
ditionellem Ablauf des Lebens in altgewohnten, wiederholten Formen oder die Welt-
anschauung der irrealen Schwärmerei. An Stelle der Idee des Menschen überhaupt tre-
ten z.B. die Teilformen aller möglichen Menschen in Berufe, Klassen, Verdienstgrade
usw. gespalten. Die Endlichkeit dieser Weltanschauung, die das Unendliche selbst fest-
halten will, zeigt sich in dem Auseinanderfallen des Lebens in lauter endliche Bruch-
stücke, die unlebendig versteinern.
Wird die Weltanschauung des Lebens in die Totalität einer fixierenden rationalen
Form gebracht, so nennt man diese gern eine organische Weltanschauung. Solche orga-
nischen Weltanschauungen existieren als Lebenslehren für das Individuum und als
sogenannte organische Soziallehren.
Z.B. forderte die brahmanische Lehre, daß jeder Brahmane nacheinander die Le-
bensform des Schülers (des Vedenstudiums), des Familienvaters und Kriegers und
schließlich des in der Einsamkeit sich mystischer Vertiefung ergebenden Waldbruders
durchlaufe. Jedem Lebensalter war gleichsam eine ihm angemessene Lebensführung
wesentlich, jede eine andere Weltanschauung repräsentierend. Was der Jugend leben-
dig ist, ist es nicht dem Alter und umgekehrt. Was mystische Vertiefung sei, kann erst
erfahren werden, nachdem die Welt erlebt und durchlaufen ist. So wirkt diese Lehre
allerdings in ihrem Relativismus organisch, aber ist doch letzthin ein ebenso festes Ge-
häuse wie eines, das man nicht organisch nennt.
Was eine solche Lebenslehre sei, die kein Stadium verabsolutiert, sondern ihre For-
derungen dem Alter anpaßt und jedem Menschen alles zukommen läßt, wird deutli-
cher im Vergleich mit den absolutistischen Lehren christlicher Persönlichkeiten. Viele
Psychologie der Weltanschauungen
sein, ohne ihn und vor ihm. Dieses zu wollen, ist sinnlos, weil unmöglich. Und was
Leben ist, was gefördert, was gehemmt werden soll, dafür gibt es gar keine Kriterien,
gar keine Rezepte, sofern man darin steht, sondern nur retrospektiv aus den Bewegun-
gen, Ausdruckserscheinungen, Leistungen, Taten heraus. Vorwiegend kann der Wille
zum Verharren im Endlichen, zur rationalen Konsequenz, zur mechanischen Arbeit
dienen. Vorwiegend also sieht man an ihm das Todbefördernde; aber er ist zugleich
eine der unvermeidlichsten Lebensbedingungen, da das Leben ein Gehäuse braucht,
wie der Leib ein Knochengerüst, das Weichtier eine Schale. So kommt diese Weltan-
schauung zu den entgegengesetzten Forderungen: man solle leben, man solle nicht
wollen - und man solle wollen. Ein Gegensatz, der psychologisch richtige Beobach-
tungen wiedergibt, aber inhaltlich gar keine Forderungen enthält, sondern ohne Im-
pulse läßt, sofern er nicht die Wirkung hat, die Menschen, die sich ihm hingeben,
chaotisch aufzulösen.
3. Diese Weltanschauung will Leben, aber sofern sie inhaltlich Forderungen auf-
stellt, gibt sie ein relativistisches Gehäuse mit einer absoluten Spitze, die faktisch fast
362 immer die Erhaltung der | gegenwärtigen Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft
und ihrer Bevorzugungen oder das volle Gegenteil, Utopie ist. Diese Weltanschauung
redet von Leben, ist aber tatsächlich die Weltanschauung von Dauerzuständen bei tra-
ditionellem Ablauf des Lebens in altgewohnten, wiederholten Formen oder die Welt-
anschauung der irrealen Schwärmerei. An Stelle der Idee des Menschen überhaupt tre-
ten z.B. die Teilformen aller möglichen Menschen in Berufe, Klassen, Verdienstgrade
usw. gespalten. Die Endlichkeit dieser Weltanschauung, die das Unendliche selbst fest-
halten will, zeigt sich in dem Auseinanderfallen des Lebens in lauter endliche Bruch-
stücke, die unlebendig versteinern.
Wird die Weltanschauung des Lebens in die Totalität einer fixierenden rationalen
Form gebracht, so nennt man diese gern eine organische Weltanschauung. Solche orga-
nischen Weltanschauungen existieren als Lebenslehren für das Individuum und als
sogenannte organische Soziallehren.
Z.B. forderte die brahmanische Lehre, daß jeder Brahmane nacheinander die Le-
bensform des Schülers (des Vedenstudiums), des Familienvaters und Kriegers und
schließlich des in der Einsamkeit sich mystischer Vertiefung ergebenden Waldbruders
durchlaufe. Jedem Lebensalter war gleichsam eine ihm angemessene Lebensführung
wesentlich, jede eine andere Weltanschauung repräsentierend. Was der Jugend leben-
dig ist, ist es nicht dem Alter und umgekehrt. Was mystische Vertiefung sei, kann erst
erfahren werden, nachdem die Welt erlebt und durchlaufen ist. So wirkt diese Lehre
allerdings in ihrem Relativismus organisch, aber ist doch letzthin ein ebenso festes Ge-
häuse wie eines, das man nicht organisch nennt.
Was eine solche Lebenslehre sei, die kein Stadium verabsolutiert, sondern ihre For-
derungen dem Alter anpaßt und jedem Menschen alles zukommen läßt, wird deutli-
cher im Vergleich mit den absolutistischen Lehren christlicher Persönlichkeiten. Viele