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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0427
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334

Psychologie der Weltanschauungen

Nach Platos Wort sieht man in den gesellschaftlichen Zuständen in großer Schrift
364 die Natur des Menschen, die im einzelnen Individuum undeutlicher, verdeckter ist.
Auch von der Gesellschaft kann man vergleichsweise sagen, daß sie ein Leben hat. In
der Gesellschaft finden sich die menschlichen Möglichkeiten auf viele Individuen ver-
teilt; nirgends ist ein wirklich kompletter Mensch, aber im Ganzen der mannigfaltigen
Menschen sieht man ein Bild von der Idee des Menschen in diesem Makroanthropos
der Gesellschaft. Und da die Zeiten und Zustände einen sehr verschiedenen Umfang an
Reichtum dieses Makroanthropos haben, ist seine Idee erst in der Gesamtheit der
menschlichen, gesellschaftlichen Entwicklung inkarniert, deren Ursprung und Ende
uns undurchsichtig ist. Nun zeigt sich, daß diesem Leben der Gesellschaft gegenüber
die eigentlich »organischen Soziallehren«1)452 solche sind, die die Entwicklung abge-
schlossen, als Totalität sehen, solche, die eine große Einsargung und Konservierung des
Bestehenden und Erreichten, aber eine größte Erschwerung weiterer Bewegung bedeu-
ten. Was rational dem Leben am nächsten zu kommen, es am reichsten zu begreifen
meint, ist vielleicht auch hier das Lebenfeindlichste. Lebendig ist der konkrete einzelne
Impuls, das Ziel, das in ein Ganzes, das nur für die Idee existiert, sich einstellt. Tot ist
das Wissen vom Ganzen, das alle Handlung aus diesem Ganzen rational bestimmen,
d.h. das Ganze rationalisieren und damit mechanisieren und damit töten will. -
Die Philosophie Hegels ist ein demonstratives Beispiel, um zu veranschaulichen, was
entsteht, wenn das Denken die Gehäuseartigkeit und Endlichkeit aller Denkgegenstände
und zugleich das Leben als unendlich begreift, aber trotzdem nun gerade das Leben
selbst als Lehre fassen will. Solange diese denkende Erfassung bloße Betrachtung sein
will und ist, ist sie keine Lehre, keine prophetische Philosophie, keine Weltanschauung,
sondern nur Vorstufe und Material. Hegels Philosophie als Betrachtung genommen ist
uns unvergleichlich lehrreich und in dieser Darstellung wird ihm viel verdankt. Hegels
Philosophie als Weltanschauung soll uns hier Gegenstand zur Charakteristik werden.
Hegel will nicht das feste und endliche Gehäuse, sondern das Leben. Das Leben
aber ist ihm Denken. Das Denken des Verstandes ist nur eine Art. Denkend erreicht er
und erreicht nach ihm der Mensch alles. So hat Hegel die ganze Unbeirrtheit in dem
Vertrauen auf das Denken, wie der Rationalist. Zugleich hat er den Sinn für alle Anti-
nomien und Irrationalitäten; er entwickelt sie mit rücksichtsloser Schärfe. Aber dann
365 löst er sie alle denkend, biegt zurück | und gewinnt ein riesenhaftes, aber harmoni-
sches und geschlossenes Gehäuse. Das Denken tritt an die Stelle des Lebens, indem es
mehr sein will als das rationale Denken der typischen Gehäusebildung. Hegel ist un-
empfindlich für die Verzweiflungen und die daraus entspringenden Krisen und Um-
schmelzungen und die Geburt neuer Impulse. Ihm wird daraus immer die Antinomie,
die rational gefaßt und denkend gelöst wird.

i Z.B. die Soziallehre des katholischen Mittelalters. Darüber Troeltsch, Soziallehren der christlichen
Kirche. - Die indische Dharmalehre. Darüber Max Weber, Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. II.
 
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