Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0437
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
344

Psychologie der Weltanschauungen

b) Der »anständige« Substanzarme: In Verständigkeit und Besonnenheit wird ein geordnetes Le-
ben geführt. Unfähig zum Enthusiasmus ist der Mensch letzthin durch innere und äußere Hem-
375 mungen unwesentlicher | Art gebunden. Er ist nie frei, nie unbedingt, restlos, vorbehaltlos, - es
sei denn, wenn ihm primitive vitale Instinkte verletzt werden (z.B. bezüglich Geld, bürgerlicher
Stellung, Familie, Ansehen). Ohne Idee neigt er zum Abwägenden und Skeptischen. Er ist weitge-
hend offen für geistige Kräfte, zumal für ästhetische und wissenschaftliche, und versagt doch un-
sicher in entscheidenden Augenblicken. Sofern nicht alles Vitale und Bürgerliche auf das Aller-
beste geordnet ist, lebt er in Angst und haßt alles, was ihm da in den Weg tritt. In Handlungen,
Reden, wissenschaftlichen Arbeiten usw. ist er übervorsichtig, vorwiegend aus Schwäche, Unsicher-
heit und Sorge, zum Teil aus alles bedenkendem Pflichtgefühl, aus dem Bedürfnis nach Genauigkeit
und Zuverlässigkeit. Diese Zuverlässigkeit ist im Einzelnen, rational Greifbaren ebenso überstei-
gert, wie sie im ideenhaft Entscheidenden versagt. Nirgends gibt es ein wirklich kraftvolles Auf-
treten und Sicheinsetzen, aber Hilfsbereitschaft, wo eigene Opfer von großem Belang nicht erfor-
dert sind. Es besteht ein stark entwickelter ethischer Überbau, auffallend starke Betonung der
»Wahrheit«, Genauigkeit und »Zuverlässigkeit«, mit einem Wort, ein großes Sicherungssystem.
Dazu gehört auch die große Rolle von »Takt«, »Konvention«, dessen, was sich gehört, »Diskre-
tion«, des Gegensatzes von vornehm und ordinär; im Unterschied zur Gesinnung des lebendigen,
rein menschlich freien Ideenhaften, der all dem eine subordinierte Geltung läßt, es aber fortwäh-
rend verletzt zugunsten erlebbarer, wenn auch nicht sogleich rational greifbarer Inhalte. Bei aller
Genauigkeit gibt es nirgends Schwung, bleibt alles farblos und charakterunbestimmt. Bei allem
Reichtum der Rezeptivität dem Geist gegenüber, bei aller Entwicklung ethischer Kräfte in der Form
der »Anständigkeit« lebt der Mensch nicht aus eigenen Kräften.
Die beiden geschilderten Typen haben keine bewußte philosophische Weltanschauung, son-
dern sie benutzen nur mit Vorliebe Wendungen, die ihrem Sinn nach jener Lebenslehre ange-
hören, die Betrachtung und Leben schließlich verwechselt und die überzeugt ist, auch noch das
Lebendige durchsichtig formulieren und kommunikabel machen zu können. Das Lebendige
selbst aber existiert anders.
Weltanschauliche Kräfte sind nur dadurch, daß sie als Lehre rationale Formen ge-
winnen, fähig, in Kommunikation zwischen den Individuen zu treten. Auch das Indi-
viduum wird sich, nur soweit ihre Formung gelingt, selbst klar, tritt so gleichsam mit
sich selbst in Kommunikation, wird selbst - bewußt. Darum drängt der Lebendige zu-
gleich zur Klarheit und zur Kommunikation, was letzthin dasselbe ist. Er will zunächst
Lehren aus Prinzipien mit Konsequenzen, aber erfährt dabei, daß sie, wenn auch im
Werden der Ausdruck des Lebens, so als fixierte, prägende schließlich einseitig, tötend
und mechanisierend wirken. Sie sind nur eine Bewegung, ein Akt des Geistes, dessen
Kräfte sie übergreifen. Das führt den Lebendigen zunächst zum Versuch der Lehre in
einer rationalen Totalität, die die Einseitigkeiten aufhebt, die Widersprüche aufnimmt,
das Leben selbst abbildet, indem sie es lehrt. Weil aber gerade in solcher Totalität das
376 Leben wieder die konservierende Gehäuseartigkeit erfährt, die | vielleicht dem Be-
trachter lebensnäher als die einseitigen Prinzipien erscheinen mag, in der Wirkung
aber vielleicht sogar noch unlebendiger ist, macht das Leben einen letzten Schritt im
Verhalten zur rationalen Form: es drängt, im Konkreten zu existieren als ob es prinzi-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften