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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0439
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Psychologie der Weltanschauungen

Freiheit im Anderen. Sie sind der Idee nach nie - wenn auch noch so sehr faktisch -
überlegen, sondern leben selbst in der Kommunikation indirekter Mitteilung so gut
vom Schüler, wie sie ihm helfen, ohne etwas Direktes, das das Wesentliche wäre, zu ge-
ben. Sokrates, Kant, Kierkegaard sind für diesen Typus repräsentativ.
Die indirekte Mitteilung gehört als das hinter allem Rationalen Stehende zum Le-
ben des Geistes, solange er in lebendiger Bewegung bleibt. Dadurch gewinnt alles Ra-
tionale eine Färbung, die es in den beiden anderen Fällen nicht hat. Diese indirekte
Mitteilung ist noch etwas bestimmter zu charakterisieren'):496
Sokrates“) nannte seine Methode, mit den Jünglingen umzugehen, eine mäeuti-
sche, d.h. eine Hebammenkunst. Das Wachsen des Lebens ist bei dem Jüngling, Sokrates
tut nichts hinzu, er hilft bloß. Sokrates kann »nichts von Weisheit gebären«; »und was
mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend
etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie
recht. Die Ursache davon aber ist diese, Geburtshilfe leisten nötiget mich der Gott, er-
zeugen aber hat er mir gewehrt... Die aber mit mir umgehen, zeigen sich zuerst zwar zum
Teil gar sehr ungelehrig; hernach aber bei fortgesetztem Umgänge alle denen es der Gott
vergönnt wunderbar schnell fortschreitend, wie es ihnen selbst und anderen scheint;
und dieses offenbar ohne jemals irgend etwas von mir gelernt zu haben, sondern nur
selbst aus sich selbst entdecken sie viel Schönes und halten es fest.« Die sokratische Me-
thode ist als eine pädagogische zu deuten, worauf besonders zu weisen scheint, daß
Sokrates die rechten von den mißgestalteten Geburten zu unterscheiden vermag, und
378 die Jüng|linge ohne ihn alsbald Mißgeburten zutage fördern. Doch steckt in der Gestalt
dieses Mannes, in seiner faktischen Wirkung - unter der die heterogensten geistigen
Richtungen gediehen sind - das Tiefere: daß er überhaupt keine fixierte Lehre vorträgt,
sondern mit der Formel, er wisse, daß er nichts wisse, zugleich die größte Unruhe im An-
deren erregte und eine bis dahin unerfahrene Problematik zugleich und geistige Verant-
wortung mit erschütterndem Ernst auf ihn legte.
Indirekte Mitteilung heißt nicht, daß etwas willentlich verschwiegen werde, daß
der Mensch eine Maske vornehme und zunächst verschweige, was er schon weiß. Das
wäre Betrug oder pädagogische Technik eines Überlegenen. Indirekte Mitteilung heißt,
daß bei stärkstem Klarheitsdrange und allem Suchen nach Formen und Formeln kein
Ausdruck zureichend ist und der Mensch sich dessen bewußt wird, heißt die Einstel-
lung, daß alles Kommunizierte, das direkt da, sagbar ist, letzthin das Unwesentliche,
aber zugleich indirekt Träger des Wesentlichen ist. Keine Lehre ist Leben und keine
Mitteilung einer Lehre eine Übertragung von Leben. Die indirekte Mitteilung, d.h. also
die Erfahrung des Direkten als eines Mediums, in dem noch ein Anderes wirkt, ist et-

i Der entscheidende Versteher der indirekten Mitteilung ist Kierkegaard. Sokrates ist immerhin
so zu deuten.
ü Vgl. Plato, Theätet 150.
 
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