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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0441
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Psychologie der Weltanschauungen

bildet. Die Liebe ist ihm konkret, blutwarm, absolut individuell, nicht Quelle von
Verbänden.
Das Individuum und das Allgemeine.
Die Grundsituation des Menschen ist, daß er als einzelnes, endliches Wesen existiert,
daß er aber zugleich eines Allgemeinen, einer Ganzheit sich bewußt ist. Er ist an seine
endliche Daseinsform gebunden, macht aber nicht nur selbst strebend den Anspruch
auf Totalität, sondern er erfährt auch die Forderungen, nicht ein bloß Einzelner, son-
dern gehorsam einem Allgemeinen, Glied eines Ganzen zu sein. Es ist nicht denkbar
und nicht vorstellbar, wie beides zugleich möglich sein sollte; endliches Einzelwesen
ist nicht zugleich unendliche Totalität. Zwischen diesen Gegensätzen bewegt sich un-
380 ruhig, nie fertig das Leben. Ruhe kann es nur gewinnen, wenn es | in einem Endlichen
sich festsetzt, im Endlichen einer individuellen, empirischen, zeitlich-historischen
Existenz oder im Endlichen eines zum Gehäuse fester Formen gewordenen Allgemei-
nen. In beiden Fällen hört das Problem und diese Lebendigkeit auf; das Leben kann
nur als Prozeß in dieser Antinomie bestehen. Dieser Prozeß selbst ist uns in seiner Un-
endlichkeit nicht faßbar. Es ist nur gleichsam das Bett dieses Stromes zu beschreiben,
indem Orte bezeichnet werden, zwischen denen er fließt; Herkunft und Ziel aber blei-
ben der bloßen Betrachtung dunkel.
Der Mensch ist notwendig, sofern er existiert, immer Fragment. Die Totalität der
Seele wird gleichsam eingeklemmt in einen begrenzten Zeitverlauf, begrenzte räumli-
che, historische, geistige Situationen. Er ist jedoch nicht endgültig dieses bestimmte
Fragment, das Fragmentarische ist nicht gegeben, so daß er sich nur resigniert damit
abfinden könnte, sondern er ist im Prozeß, in jener Unruhe, als ob das Ganze und All-
gemeine wirklich von ihm erreicht würde. Zum Schein nur kann er aus seiner Situa-
tion herausspringen, indem er betrachtend das Ganze sieht und es damit zu sein
glaubt: das bleibt bloße Betrachtung, in der er sein konkretes Dasein, seine zeitlich-
räumliche, historische, schicksalsmäßige Bedingtheit vergißt, in der er aufhört zu exi-
stieren, um nachher schmerzlich das konkrete Dasein zu empfinden, das er dann leicht
als kleinlich, störend, unmoralisch usw. schilt. Als konkrete Existenz kann der Mensch
sein Dasein nicht verlassen, sondern nur in ihm selbst historisch werden, indem er es
in der Konkretheit unendlich wichtig nimmt. Daß er zugleich zeitlich und doch mit
der Intention auf die Zeitlosigkeit, den ewigen Sinn existiert, zugleich endlich und un-
endlich, zugleich einmalig und allgemein geltend, das hat zur unvermeidlichen Folge,
daß er nie ist, sondern immer nur wird. Die Synthese ist als Ruhe nicht möglich. Er
kann sich nicht berufen auf das, was er ist, nicht auf seine Anlage, nicht auf seine er-
worbene Persönlichkeit, denn was ist, das ist das Festgewordene, Endliche, das sofort
entweder individuell oder allgemein, nicht beides zugleich ist. So lange er lebt, bleibt
die Antinomie und damit der Prozeß, in dem das Allgemeine persönlich und das Per-
 
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