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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0446
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Psychologie der Weltanschauungen

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nachdem er lange von der Unsterblichkeit geredet hat, sagen: »Daß sich nun alles gerade
so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl einem vernünftigen Manne
nicht zu behaupten; daß es jedoch, sei es nun diese oder ähnliche Bewandtnis haben
muß ... dies dünkt mich zieme sich gar wohl, und lohne auch, es darauf zu wagen, daß
man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß solches
sich selbst gleichsam einreden.«502 Sein Leben führen als ob es wahr sei, das heißt: von
einem Gedanken durchdrungen sein; während es wohl möglich ist, einen Gedanken ob-
jektiv einzusehen und zu wissen und doch zu leben, als sei er nicht wahr. Die Wahrheit
für den Existierenden ist allein wesentlich. »Mag der wissenschaftlich Forschende mit
rastlosem Eifer arbeiten, mag er sogar im begeisterten Dienste der Wissenschaft sein Le-
ben verkürzen, mag der Spekulierende nicht Fleiß und Zeit sparen: sie sind doch nicht
unendlich persönlich in Leidenschaft interessiert, im Gegenteil, sie wollen es nicht ein-
mal sein. Ihre Betrachtung will objektiv, interesselos sein. Was das Verhältnis des Sub-
jekts zu der erkannten Wahrheit betrifft, so nimmt man an: Wenn bloß das objektiv
Wahre besorgt ist, dann ist es mit der Aneignung eine Kleinigkeit. Sie be|kommt man 386
von selbst mit dazu, und am Ende kommt es aufs Individuum nicht an.< Darin liegt ge-
rade die erhabene Ruhe des Forschers und die komische Gedankenlosigkeit des
Nachsprechers«1).503 Kierkegaard preist Wissenschaft und Spekulation, er will nicht
mißverstanden werden, als ob er diese verachte. Aber er zeigt, welche Bedeutung sie in
ihrer psychologischen Wirkung haben, wenn sie Weltanschauung überhaupt werden,
daß in ihnen der Mensch vor sich selbst verschwindet, von sich selbst wegkommt, um
objektiv zu werden; es ist eine Illusion, in der Zeit ewig werden zu wollen. Der existie-
rende Denker bedarf der Synthese von Zeitlichem und Ewigem, der bloße Spekulant
ist für ihn unwahr“).504 Die Wahrheit, so lautet für Kierkegaard die Formel, ist beim
existierenden Denker die Innerlichkeit, die Subjektivität. Es ist das nicht die Willkür
des Gefühls, sondern immer die Durchdringung des Subjekts auf dem Wege des Allge-
meinen, die wesentliche Beziehung des Subjekts auf die Wahrheit. Diese Wahrheit des
Existierenden ist letzthin immer das Paradox. »Wer vergißt, daß er ein existierendes
Subjekt ist, dem geht die Leidenschaft aus, und zum Lohn dafür wird ihm die Wahr-
heit nicht ein Paradox, sondern das erkennende Subjekt wird aus einem Menschen zu
einem phantastischen Wesen, und die Wahrheit ein phantastischer Gegenstand für
dessen Erkenntnis«"').505
Wie bei jeder Charakteristik einer lebendigen Gestalt für jede Formel Verwechslung
und Mißverständnis möglich ist, so auch beim existierenden Denker. Die »Wahl«, die
es in der Wissenschaft nicht gibt, wo vielmehr alles betrachtet und seinen Gründen

i W. W. VI, u8ff.
ii VI, I49.
üi VI, 274. Vgl. auch die »Beschwörungsformel« für solche phantastische Menschen: VII, 5ff. Defini-
tion des existierenden Denkers zusammenfassend VII, 48.
 
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