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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0449
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356

Psychologie der Weltanschauungen

389 rung | des Subjekts. Das hindert nie, ja betont die Geltung des formalen kategorischen
Imperativs Kants.
Wie immer liegen Verwechslungen nahe mit abgeleiteten Gestalten:
Das Pathos der ethischen Allgemeingültigkeit tritt als Vergewaltigung anderer auf.
Wer stark objektiviert und seine ethische Erfahrung in Formeln und Forderungen nie-
derlegt, denen er selbst sich vielleicht unter Vernachlässigung wesentlicher Impulse
unterworfen hat, ist geneigt, auch anderen Menschen diese Forderungen entgegenzu-
bringen, zu verlangen, daß auch sie gehorchen. Die ethische Eebendigkeit wird, so-
lange sie echt ist, sich des Problematischen bewußt bleiben, sobald das Ethische kon-
kret wird; sie wird erfahren und wissen, daß die Objektivierung letzthin nur für den
Einzelnen absolut bindend ist, der sie - unter noch so großer Verwertung der ethischen
Erfahrungen anderer - für sich schafft. Das Ethische, der Form nach absolut allgemein-
gültig, ist dem Inhalt nach nur existierend da, wenn das Allgemeingültige zugleich der
absolut Einzelne ist. Dieser Einzelne ist sich des Allgemeinen in sich bewußt, aber nicht
der Übertragbarkeit im Konkreten, weil das hieße, den individuellen Einzelnen zu
übertragen, die Existenz zugunsten eines bloß Allgemeinen aufzuheben; weil es hieße,
vom anderen zu verlangen, er solle nicht mehr als dieser Einzelne, sondern nur im Me-
dium des übertragbar Allgemeinen als eine exemplarische Verwirklichung unter vie-
len - der Zahl nach beliebig vielen - Gleichen sein Dasein ablaufen lassen. Nur der in
Gehäusen erstarrende Ethiker beansprucht konkrete Erfüllung konkreter Imperative
von anderen. Praktisch zeigt er darin wohl ausnahmslos die Befriedigung der assimi-
lierenden Machttriebe, in denen sich das Ich zur Herrschaft über andere dadurch er-
weitert, daß es allgemeingültig wird. Daß das Allgemeinwerden sich in die Sackgasse
bewegt, als Ich für andere allgemein zu werden, sich als Ich an die Stelle des Allgemei-
nen oder Ganzen zu setzen, ist überall der analoge Prozeß: Der Ethiker vergewaltigt
mit Forderungen, der Denker des absoluten Wissens mit seinem System oder den ver-
meintlichen Richtigkeiten, ohne deren Voraussetzung er andere Denkarbeit nicht gel-
ten läßt, der Politiker, indem er selbst der Staat, das Ganze wird.
Wie man ethisch sich zu anderen stellen kann, läßt sich in folgendem Schema un-
terscheidend festlegen: 1. An erster Stelle wäre jener Unwille, jenes Empörtsein, das
keinen Vorteil für sich will, sondern bloß Unterwerfung unter die Formeln, denen man
selbst sich unterworfen hat; es ist ein Auflodern des Pathos des Allgemeinen, aber un-
390 lösbar verflochten mit starken Machtinstinkten (das Allge| meine ist nur als festes Ge-
häuse genommen, daß das ethische Leben zugleich absolut individuelles ist, verges-
sen). 2. Damit tritt sehr häufig zugleich der individuelle Vorteil zusammen. Die
Entrüstung ist eine unlösliche Mischung von Interessiertheit, persönlichen Verletzt-
seins, Resten von Pathos des Allgemeinen.
Beiden gegenüber besteht eine lebendige ethische Beziehung nicht in Übertragung
konkreter Imperative, sondern im Kampf um die Seele in Liebe, die den anderen in Frage
stellt, anstoßen läßt, seine Entschlüsse nicht inhaltlich vorwegnimmt, aber als Sache
 
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