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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0451
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358

Psychologie der Weltanschauungen

gentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es ... Die schöne Seele hat kein
anderes Verdienst, als daß sie ist. Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus
ihr handelte, übt sie der Menschheit peinlichste Pflichten aus... In einer schönen Seele
ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren ... Nur im
Dienst einer schönen Seele kann die Natur zugleich Freiheit besitzen und ihre Form
bewahren, da sie erstere unter der Herrschaft eines strengen Gemüts, letztere unter der
Anarchie der Sinnlichkeit einbüßt ...«i).5°9 »Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, ein-
zelne, sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein ...
Nicht um sie wie eine Last wegzuwerfen oder wie eine grobe Hülle von sich abzustrei-
fen, nein, um sie aufs innigste mit seinem höheren Selbst zu vereinbaren, ist seiner rei-
nen Geistesnatur eine sinnliche beigesellt. Dadurch schon, daß sie ihn zum vernünf-
tig sinnlichen Wesen, d.i. zum Menschen machte, kündigte ihm die Natur die
Verpflichtung an, nicht zu trennen, was sie verbunden hat, auch in den reinsten Äu-
ßerungen seines göttlichen Teils den sinnlichen nicht hinter sich liegen zu lassen und
den Triumph des einen nicht auf Unterdrückung des anderen zu gründen. Erst alsdann
... wenn sie ihm zur Natur geworden ist, ist seine sittliche Denkart geborgen; denn so-
lange der sittliche Geist noch Gewalt anwendet, so muß der Naturtrieb ihm noch
392 Macht entgegenzusetzen | haben. Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder auf-
stehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden«“).510

2. Das Allgemeinmenschliche.511
Das Allgemeinmenschliche ist das Durchschnittliche, Gewöhnliche, Häufige, das zum
Menschen als solchem Gehörige, das der Natur Gemäße. Der Einzelne ist demgegen-
über der Charakteristische, Spezifische, Eigentümliche, Einmalige. Faktisch ist das All-
gemeinmenschliche immer das einem - wenn auch sehr großen - Kreise von Men-
schen Gemeinsame, es ist immer soziologisch und kulturell bedingt und begrenzt. Es
ist da als die Welt der Sitten, Konventionen, Gewohnheiten, es tritt akut als Masse in
Erscheinung.
An dies Allgemeinmenschliche sich hinzugeben, das heißt: tun, was alle tun und
auf sein Spezifisches verzichten. Man taucht unter in der Masse in dem Gefühl: »wir
alle«, fühlt sich getragen und geborgen in dieser Welle, in der man als Einzelner ver-
schwindet und doch das Machtbewußtsein der Masse hat. Man bejaht die Majorität
und unterwirft sich ihr in dem Bewußtsein des Sinns. Man hat kein Selbst, sondern ist
wie die anderen, das ist leicht, das bringt Erfolg, wenn auch mit Maß, das tritt, wenn
es Lehre wird, pathetisch mit dem fanatischsten Rechtsbewußtsein auf, das verleiht
den Schwung des hingehenden Zerfließens des Selbst und die Lust der Befriedigung
der primitivsten Instinkte, die den Menschenmassen gemeinsam sind. Diese Hingabe

i Über Anmut und Würde. Cottasche Ausgabe 1869:11,2/2ff.
ü Ebda. S. 260.
 
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