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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0452
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Psychologie der Weltanschauungen

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verwechselt sich fortwährend und maßt sich an, die Hingabe an das Ganze zu sein (wel-
che als wesensverschieden unter 5 charakterisiert wird).
Dem Allgemeinmenschlichen gegenüber legt das Individuum, soweit es in diesem
Gegensatz lebt, Wert auf seine spezifischen Eigenschaften, nur weil sie spezifisch sind,
auf seine besondere Anlage. Es betont gerade das, was nur ihm eigentümlich ist, schafft
auf alle Weise Abstand zwischen sich und der Masse und kultiviert diese eigenartige
»Vornehmheit« des absoluten Individualisten, die nicht mit soziologisch bedingter,
aristokratisch gezüchteter Vornehmheit zu verwechseln ist. Der Mensch will die be-
sonderen Keime sich entfalten lassen, die in ihm liegen, er ist sich selbst eine Mannig-
faltigkeit, ein Boden, aus dem so sonderbare, so tiefe, so eigenartige Erlebnisse und
Schicksale und Zufälle wachsen. Sein höchster Wert ist ihm die Partikularität des Be-
sonderen.
Beiden Extremen gegenüber existiert der Mensch als ein Ganzes. Er übernimmt
seine Besonderheit als Kraft und als Grenze, aber | nicht als absolut und endgültig und
nicht als akzentuiert; sondern er ist zugleich allgemeiner Mensch. Er ist ein Einzelner
und zugleich menschliches Geschlecht. Ohne in der Masse als Individuum zu zerflie-
ßen oder sich in Vornehmheit zu isolieren, vermag er beides zu sein, aber nicht nach-
einander und nebeneinander, sondern in lebendiger Synthese.
3. Das Notwendige.
Der Mensch ist von Notwendigkeiten umgeben und beherrscht. Gleichsam über sich
die logisch-ethische Notwendigkeit des »Allgemeingültigen«, unter sich die »naturge-
setzliche Notwendigkeit«, droht ihm, zwischen beiden nichts zu sein. Als notwendig
tritt ihm dazu sein Schicksal in der Gesellschaft entgegen. Die »Allgemeingültigkeit«
wurde besprochen, die »Notwendigkeit« im engeren Sinn ist jetzt gemeint. Im konkre-
ten, individuellen Fall aber erscheinen alle die notwendigen Geschehnisse ebenso als
Zufall; denn das Allgemeingesetzliche daran genügt nie, das individuelle Geschick
als absolut notwendig begreifen zu lassen, mag die Plausibilität der Notwendigkeit und
die Suggestion in der Darstellung solcher auch noch so groß sein.
Diese Situation macht ein mehrfach entgegengesetztes Verhalten des individuel-
len Selbst möglich. Der Einzelne kann sich resigniert unterwerfen, kann sich heroisch
aufbäumen. Er kann Ruhe in dem Gedanken der Notwendigkeit finden, der ihn vor
dem grausen Zufall bewahrt, oder er kann Pathos im Gedanken des Zufalls gewinnen,
der ihn an sein Glück glauben läßt, das diesen Zufall meistern wird.
Unterwerfung unter die Notwendigkeit heißt Unterwerfung unter den Naturmecha-
nismus, indem ich ihn bejahe oder resigniere, heißt Unterwerfung unter das soziale
Schicksal als unvermeidlich, heißt Unterwerfung unter meine seelischen Erfahrungen,
Beziehungen, Erlebnisse, als ob sie mir gegeben, unfrei wären. Dem Naturmechanis-
mus unterwirft sich der Mensch durch Aufgabe jeden Widerstands, durch Leiden und
Genuß: Er entzieht sich nicht den Notwendigkeiten des Vitalen, den Erscheinungen

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