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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0453
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3öo

Psychologie der Weltanschauungen

seiner leiblichen und seelischen Organisation, den Freuden und Genüssen, die von
selbst kommen und gehen. Er lebt unter günstigen Bedingungen so hin, unter ungün-
stigen zerbricht er hoffnungslos, verzweifelt, ungläubig. Die seelischen Erlebnisse
schließlich nimmt er als unfrei hin, fühlt sich nicht als ihr Herr, hat sein Selbst als ei-
nen Punkt außer ihnen, leidet und geht in Nihilismus unter. Er rechtfertigt sich mit
394 Krankheit (z.B. »Nerven«), in welcher Kategorie er alles Seelische als unfrei unter |bringen
kann. In dem Maße als diese Sphäre des Unfreien für ihn wächst, verliert er das Bewußt-
sein des Sinnes und des Selbst.
Dem Verlust des Selbst in der überflutenden Macht des bloß Notwendigen bäumt
sich der Einzelne entgegen. Freiheit ist ihm Lebensbedingung, und er wagt es gegen
den Naturmechanismus zu existieren. Er vergewaltigt und ignoriert ihn. Die gewalti-
gen Erscheinungen asketischer Verneinung des Leibes, wie sie überall auftauchen, füh-
ren den Freiheitsdrang und das Erlebnis der Freiheit unter den Motiven als ein Element
bei sich. Platos Lehre: in reiner Erkenntnis der ewigen Ideen frei zu werden von Leib
und Begierden und dem Wechsel des nichtigen Werdens in der Zeit, ist der maßvolle
Ausdruck für den Widerstand des Individuums gegen die natürlichen und sozialen
Notwendigkeiten, die es zu verschlingen drohen. Das ethische Bewußtsein widersetzt
sich dem, daß Anlage, Schicksal es bestimmen sollen. Der Mensch will im Drang nach
Freiheit, zu sich selbst zu kommen, nur Schuld bei sich gelten lassen, er lehnt Recht-
fertigungen durch Unfreiheiten ab. Er beruft sich nicht auf seine Nerven, seine Krank-
heit, seine Begabung, sein Schicksal. Nur soweit Schuld für ihn ist, weiß er sich frei,
und darum erweitert er die Grenzen der Schuld und seiner Aufgabe unermeßlich. Er
will das Unfreie als sein Eigen übernehmen und dadurch frei machen.
Dieses »Übernehmen« (Kierkegaard)512 ist der eigentliche lebendige Prozeß zwi-
schen dem Einzelnen und dem Notwendigen. Der bloß platonisch Kontemplative, der
asketisch nur Verneinende tritt aus der Welt des Notwendigen heraus und muß es bü-
ßen, indem das Verneinte und Verdrängte in anderer Gestalt immer wiederkehrt.
Durchdringend wirkt nur das in Freiheit Übernehmen, das so irrational, so paradox
ist, wie alles Leben.
Der Gegensatz von Notwendigkeit ist Möglichkeit. Freiheitsbewußtsein habe ich in dem Maße,
als ich Bewußtsein der Möglichkeit habe. Diese Möglichkeit hängt entweder von mir ab oder
vom Schicksal. Im Möglichen kann ich leben und das Notwendige ignorieren, dann lebe ich
phantastisch, unwirklich. Oder ich unterwerfe mich den Notwendigkeiten, dann lebe ich im
bloß Allgemeinen, Gesetzlichen, sofern ich Fatalismus und Determinismus nicht bloß theore-
tisch denke, sondern in ihnen existiere. Das Lebendige, Paradoxe ist nun die Einheit von Mög-
lichkeit und Notwendigkeit. Wer in der Möglichkeit lebt und sie zugleich in der Notwendigkeit
begrenzt, ist der »Wirkliche«1).513 Die einseitigen Gestalten des Lebens im Notwendigen und des

Dies lehrt Kierkegaard: »Die Wirklichkeit ist die Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit.«
Von ihm stammen die folgenden Charakteristiken der einseitigen Gestalten. Vgl. W. W. VIII, 32-39.
 
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