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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0456
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Psychologie der Weltanschauungen

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Kierkegaard hat die Notwendigkeit als Weltbild und Trost bei Börne517 verspottet. Es ist das-
selbe Weltbild, das eben charakterisiert wurde, wenn auch in trivialer Form. Börne entdeckt,
daß man in einer kleinen Stadt an dem einzelnen Fall des Unglücks und Verbrechens hängen
bleibe und so »leicht zur Feindschaft gegen die Menschen und zur Empörung gegen Gottes weise
Vorsehung versucht werde; aber die tabellarischen Übersichten über die Unglücksfälle und Ver-
brechen in einer großen Stadt wie Paris beschwichtigen den peinlichen Eindruck, den der ein-
zelne Fall mache«.518 »So lange man selbst kein Unglück hat, sagt Kierkegaard, so hat man ja
in seiner Behaglichkeit ein Mittel, sich das Peinliche vom Leibe zu halten... und sollte jemand
vor Hunger umkommen, so sieht man nur in einer Tabelle nach, wie viele jährlich Hungers ster-
ben ... und man ist getröstet.« Börne schreibt und Kierkegaard fügt in Klammern hinzu: »Wir
erkennen dort (in Paris) die Naturnotwendigkeit des Bösen; und die Notwendigkeit ist eine bes-
sere Trösterin als die Freiheit (besonders wenn man keines Trostes mehr bedarf, weil man nicht
mehr leidet) «b-519
Der lebendige Mensch, der ein Selbst zu werden strebt, in dem das Allgemeine ge-
genwärtig ist, würde eines Weltbildes bedürfen, in dem die Notwendigkeit den Zufall
vernichtet, in dem aber auch die nie aufhörende Möglichkeit praktisch die seelische
Wirkung der Notwendigkeit auf das Individuum für alles Konkrete aufhebt. Ein sol-
ches Weltbild ist z.B. - vielleicht als für große Massen wirksames historisch das Ein-
zige - das Calvinistische von der Prädestination,520 die alles von Anbeginn an be-
herrscht, die aber vom einzelnen Menschen nie endgültig gewußt werden kann: wie
sie nämlich für ihn selbst und andere Individuen gelte; es bleibt also alles möglich und
stachelt praktisch die Aktivität des Menschen sogar aufs äußerste an. Hier bezieht sich
das Weltbild nur auf die Frage der ewigen Seligkeit oder Verdammnis (der Prädestina-
tion der Gnade). Die Notwendigkeit, die in solcher Prädestination liegt, hat einen ganz
anderen Charakter als die spinozistische: Sie ist die Notwendigkeit des Individuellen,
während für Spinoza nur die Notwendigkeit des Allgemeinen besteht, das Individuum
aber nichtig und gleichgültig | ist. Nun wird das Weltbild, das die Notwendigkeit nur
im Allgemeinen sieht und im Individuum nur so weit, als es als Allgemeines erfaßbar
ist, die Möglichkeit des Einzelnen nie vernichten können, wenn der Einzelne nur den
Akzent auf sich und dem anderen, dem einzelnen Selbst, behält. Vernichtet fühlt sich
das Selbst nur, wenn es restlos in jene allgemeinen Notwendigkeiten aufgehen soll,
und wenn die Notwendigkeit - ihrem logischen Sinn widersprechend - sich des Indi-
viduellen direkt bemächtigt als unabänderliches Fatum. Die erstere Notwendigkeit
kann als philosophisches Weltbild bestehen (und schränkt dem Individuum den Raum
nicht ein, kann es vielmehr als die eigentliche Substanz auf die Spitze heben); die letz-
tere Notwendigkeit des Individuellen aber kann nur als mythisches Weltbild, als er-
zählendes sich darstellen, da es gedanklich unmöglich ist.

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Kierkegaard, W. W. IV, 444ff.
 
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