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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0459
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366

Psychologie der Weltanschauungen

den höchsten Wert beimißt, verliert an seinem Maßstab der andere an Wert, trotz aller
Fülle und Gestalt des Humanen, trotz aller Kraft und Unbedingtheit des Absolutisten.
Die echten Gestalten existieren in Durchdringung des ganzen Menschen. Ihnen
schließen sich die viel häufigeren, unechten in gleitender Reihe an: dem Absolutisten
die bloßen Fanatiker, die Menschen mit fixen Ideen (der Absolutist ist z.B. in der Be-
trachtung, im Denken universal, relativistisch und ist Absolutist nur im Leben); dem
Humanen schließt sich der Mensch an, der vielerlei unverantwortlich lernt, kann und
erlebt, aber nicht assimiliert, nicht zum Ganzen formt.
401 | Kierkegaards Sätze sind die deutlichsten für den Typus des echten Absolutisten:
»Es gibt allerlei, was man >zugleich< sein kann; und je unbedeutender es ist, desto leichter
kann man es >zugleich< sein ... Das Bedeutende aber hat, je nach dem Grade seiner Bedeutung,
just die Eigentümlichkeit, daß man nicht das sein kann - und zugleich noch anderes.«')525 -
Lessing redet von dem einzigen immer regen Triebe zur Wahrheit: »Dies Wort >einzig< kann
nicht gut anders verstanden werden als >unendlich< in demselben Sinne, als es höher ist, einen
Gedanken, einen einzigen zu haben, als viele Gedanken.«n)S26 »Sokrates ist der unpopulärste
Mann in Griechenland, gerade weil er dasselbe sagt wie der simpelste Mensch, aber dabei un-
endlich viel denkt. Mit einem Gedanken aushalten zu können; ihn mit ethischer Leidenschaft
und der Unerschrockenheit des Geistes durchzuführen; die Gegensätze, die dieser eine Gedanke
in sich birgt, mit ebensoviel Leidenschaft wie Unbefangenheit auf sich wirken zu lassen; so in
demselben zugleich den tiefsten Ernst und den heitersten Scherz, die tiefste Tragik und die höch-
ste Komik zu sehen: das ist zu allen Zeiten unpopulär ,..«i ii iii)527 Kierkegaard nennt es »die Bewe-
gung der Unendlichkeit zu machen«, wenn ein Mensch einem Einzelnen das Absolute abge-
winnt. »Der Ritter«, der die Bewegung der Unendlichkeit vollzieht, »wird zunächst die Kraft
besitzen, den ganzen Lebensinhalt und die Bedeutung der Wirklichkeit in einen einzigen
Wunsch zu konzentrieren. Fehlt es einem Menschen an dieser Konzentration, an dieser Ge-
schlossenheit, ist seine Seele von Anfang an auf das Mannigfaltige gerichtet, dann wird er nie-
mals die Bewegung ausführen... Ferner wird der Ritter die Kraft besitzen, das ganze Resultat der
Denkoperation in einem Akt des Bewußtseins zu konzentrieren. Fehlt ihm diese Geschlossen-
heit, ist seine Seele von Anfang an auf das Mannigfaltige gerichtet, so wird er nie Zeit bekom-
men, die Bewegung zu vollziehen... er ist zu stolz zu wollen, daß das, worin der ganze Inhalt sei-
nes Lebens beschlossen war, die Sache eines flüchtigen Augenblicks sollte gewesen sein.«iv)528
Der Absolutist hat nicht nur einen Gedanken, er ist überall im Leben unbedingt
und ausschließend, wo es wesentlich ist - und nur auf das Wesentliche kommt es ihm
an -; er hält unbedingt Treue, seinem Vater, seiner Religion, er liebt nur eine Frau und
ist an diese endgültig gebunden. Trotzdem ist es dem Absolutisten Pflicht, ein ganzer
Mensch zu werden; das unterscheidet ihn neben der Durchdringung seines ganzen We-
sens von dem bloßen Fanatiker. Denn es gibt zwei Gegensätze, die gänzlich verschie-

i Angriff auf die Christenheit, 108.
ii VI, I93.
iii IV, 383.
iv III, 36ff.
 
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