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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0461
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Psychologie der Weltanschauungen

403 | Der dargestellte Gegensatz des harmonischen, humanen Universalismus und des
antinomischen Absolutismus sei zuletzt noch einmal mit einigen Schlagworten cha-
rakterisiert:
Der Absolutist relativiert alles Allgemeine, absolut ist ihm ganz Individuelles, darin
er sich existierend bewußt ist. Der Humane relativiert gerade das Individuelle, er ver-
wandelt es in Möglichkeit, in Bildungsstoff, und kann dadurch des Konkreten verlu-
stig gehen. Der Absolutist »übernimmt« das Konkrete, der Humane nicht. Dem Abso-
lutisten ist absolut nur, was zugleich einzeln, individuell ist. Dem Humanen wird das
Absolute erniedrigt, wenn es im Individuellen nicht rein verwirklicht ist. Der Humane
schwebt immer außerhalb und kann darum, alles relativierend, vielerlei. Er empfindet
es als ein Festgelegtwerden auf Beschränktes, was dem Absolutisten das Wesentliche
ist. Die Liebe des Humanen ist eine Gesamtkraft, die auch auf einen einzelnen Gegen-
stand trifft; die Liebe des Absolutisten existiert nur in der Liebe zum einzelnen Indivi-
duum, das für ihn absolut ist. Der Humane liebt nur die Idee, das einzelne Individuum
ist eine fragmentarische Gestalt derselben. Der Absolutist liebt das Individuum als
Idee, die Idee allein wäre ihm ein phantastisch Allgemeines. Beide sind mit keinem Er-
reichten befriedigt, weil beide unter der Idee leben, aber der Humane relativiert und
verzichtet, der Absolutist legt allen Sinn darein, in diesem individuellen Prozeß, der
absolut wesentlich begann, unter der Idee weiterzugehen. Der Humane denkt für sein
Dasein unwillkürlich auch an Allgemeingültigkeit im Sinn der Idee, der Absolutist be-
hauptet für das Individuelle, das ihm absolut ist, weil es ihm unter der Idee steht, nicht
Allgemeingültigkeit für jedermann.
5. Die soziologischen Ganzheiten.
Ein soziologisches Ganzes hat im Gegensatz zur bloßen Masse irgendeine Struktur:
Staat, Nation, Familie mögen recht heterogene Strukturen haben von rationaler
Durchsichtigkeit bis zur Idee einer undurchsichtigen, im Eigenen lebendig gefühlten
Substanz. Allen gegenüber fühlt der Mensch sich eingeordnet, hingegeben, unterwer-
fend, und fühlt er sich in Widerstand, sich individualistisch isolierend, oder schließ-
lich erweitert er sein Ich zur Herrschaft, indem sein Wille und der Wille des Ganzen
zusammenfallen, er zugleich Individuum und das Ganze im Selbstbewußtsein wird,
die Gemeinschaft das Medium ist, in dem er seine gestaltende Tätigkeit wirken läßt.
Das hingegebene Selbstbewußtsein fühlt sich wesentlich nicht als Individuum,
4 04 sondern als Gruppenangehöriger. Ihm ist das poli | tische Dasein, das Dasein als Gesell-
schaftswesen Sinn und Glück, das Individuum als solches ist ihm nichtig. Losgelöst
von dem Boden seines Geschlechts, seiner Nation, seines Staates fühlt sich dieser
Mensch wie tot, während der phantastisch, so ohne weiteres von allem Losgelöste sich
in seiner Wurzellosigkeit zugleich als Mensch überhaupt fühlen kann. Zwischen die-
ser Abstraktheit des individuellen Atoms, die leer ist, und der absoluten Gebunden-
heit liegen die empirischen Gestalten.
 
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