Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0463
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
370

Psychologie der Weltanschauungen

drängt, wenn sie nicht vernichtet werden. Auf Grund der Tradition von Jahrtausen-
den, die sie aufgenommen haben, leben solche Einsame (z.B. Nietzsche, Kierke-
gaard) wie Wesen, die nicht soziabel sind. Sie haben die Leistungen der Gemeinschaft
(Tradition des Geistes) zu ihren Gunsten zur Verfügung, erleben aber nicht das Umge-
kehrte, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, sehen darin jedenfalls nicht Maßstab und
Pflicht, wenn auch Sehnsucht dahin sie bewegt.
Dem Staate setzt sich das Individuum auf mehrfache Art entgegen. Der Staat wird
als bloßes Mittel für das ego benutzt (z.B. Alkibiades).533 Der Staat wird als ein Mittel
der Existenz und Erziehung pflichtmäßig respektiert (z.B. der platonische Philosoph),
das Individuum stellt sich im Selbstbewußtsein und im Wesentlichen außerhalb, arbei-
tet jedoch, sich unterordnend, mit am Ganzen. Oder schließlich: das Individuum ent-
zieht sich völlig dem Staate, wie z.B. die spätgriechischen Philosophen aus dem öffent-
lichen Leben sich in die Einsamkeit zurückzogen. Sie lehrten, die Welt sei ein Staat,
paarten grenzenlosen Universalismus mit dem atomistischen Individualismus. Der ein-
zige Sinn war Seelenruhe und kontemplatives Verhalten des einzelnen Individuums.
6. Welt und Gott.
Wird der Mensch sich der Ganzheit des Daseins bewußt, fühlt er sich diesem Ganzen
gegenüber als Einzelner, so beherrschen ihn die entgegengesetzten Triebe, Ganzheit,
Allheit zu werden und Selbst zu sein.
406 | Die Situation ist verzweifelt. Sie gewinnt die leichteste Lösung, wenn der Mensch
sein Ich zerfließen läßt in das All, wenn er in pantheistischer Unendlichkeitsstimmung
als Selbst zerrinnt, wenn er in schwärmerischer Bewegung im Ganzen verschwindet.
Dem entspricht ein Weltbild, in welchem das Individuelle nur Schein ist, auf einem
principium individuationis534 beruht, das nur innerhalb der Subjekt-Objekt-Spaltung
gilt. Alle Einzelnen fließen in das All zurück, wie die Ströme in den Ozean (so sagten
die Stoiker).535 Unsterblich und wahrhaft bestehend ist nur das Ganze und das Netz-
werk der idealen Formen, alles Individuelle ist Schatten, Abbild, Abfall; es drängt nur
zurück dahin, woher es durch törichte und schuldhafte Isolierung entsprang; es drängt
dazu, nicht mehr es selbst zu sein. Das ist, da der Mensch doch fortfährt, als Indivi-
duum da zu sein, nur in Stimmung, in Rausch, in Mystik möglich. So wird der Mensch
unendlich, sofern er Ernst damit macht, nur indem er sein Selbst verliert, aber doch
ein zufälliges, lebendiges Individuum bleibt. Als endliches Wesen hat er nur die Auf-
gabe - je nach der sonstigen Weltanschauung - der stoischen formalen Selbstdiszipli-
nierung, der asketischen Übungen, um so möglichst gewiß im übrigen unendlich zu
sein, in der Allheit zu zerfließen, im pantheistischen Glauben aufzuhören, im Rausch
eins zu werden. Je mehr die klare Disziplinierung fehlt, je mehr es sich bloß um Stim-
mung handelt und eine Mischung endlichen Daseins mit dem unendlichen eintritt -
ohne Durchdringung -, um so mehr werden diese Gestalten undeutlich, undifferen-
ziert, unecht.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften