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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0466
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Psychologie der Weltanschauungen

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Gott gegeben wird. Dann werden sie | umgedeutet auf alles, was von uns nicht bewußt 409
gewollt werden kann, sondern uns gegeben wird, in uns wächst.
In solchem Glauben an Jesus Christus bleibt der religiöse Einzelne ein Einzelner.
Wenn er sich auch einem Individuum unterwirft, bleibt er doch der Einzelne Gott ge-
genüber, denn dies Individuum (bei dem es gleichgültig ist, ob es vor 2000 Jahren lebt
oder gegenwärtig, an das geglaubt wird nicht auf Grund von Kenntnis, Erfahrung, Be-
währung, Umgang, sondern auf Grund der unbegreiflichen »Bedingung«, unbegreif-
lich jedem, dem sie nicht gegeben wird) ist eben Gott. Unter Menschen bleibt, was
dem religiösen Einzelnen immer wesentlich ist, nur das Verhältnis auf gleichem Ni-
veau, lehrend, veranlassend, oder lernend, veranlaßt möglich (das sokratische Verhält-
nis, das alle Autorität unter Menschen ausschließt).
Faktisch aber wird sich dieses ganzen Verhältnisses leicht die Kraft bemächtigen,
die zur Unterordnung unter menschliche Autorität, unter menschliche Individuen
drängt oder (bei diesen selbst) zur Macht, zum Haltgebenwollen, zum Führertum im
Letzten, Weltanschaulichen. Daher die Christen fast immer Individuen anzubeten ge-
neigt waren.
Wenn hier eine psychologische Möglichkeit allgemeinen Charakters vorliegt - wie
es vom Standpunkt des Betrachtenden aus notwendig sein muß -, so wird man außer
dem grandiosen Beispiel des Christlichen vermutlich auch andere finden. Es wird zu
erwarten sein, daß sie untereinander sich auf das Heftigste ablehnen müssen, daß sie
alle, außerhalb dieser spezifischen Beziehung zu einem menschlichen Individuum, ih-
rer Zeit entsprechend frei, humanistisch, wissenschaftlich, im Einzelnen unbehindert
sind. Sie werden alle in absolut freier Vereinigung beginnen, alsbald zu gewissen For-
men, Zeremonien, Symbolen neigen, schließlich bis zur Kirchenbildung fortschrei-
ten, wenn die Bedingungen äußerer Art zureichen und der Massenerfolg kommt. Die-
ser wird vielleicht anfangs geradezu abgelehnt, denn der Zusammenschluß ist ein
solcher der besonders Begnadeten, Begabten, Virtuosen. Aber das ändert sich mit der
Entwicklung, bei der schon früh hysterisch Veranlagte leicht eine Rolle spielen kön-
nen. Der Führer, an den geglaubt wird, übt eine disziplinierende Wirkung aus. Die An-
hänger werden - es handelt sich ja um weltanschaulich-religiöse Bindung an ein Indi-
viduum, das für die Anhänger ein absolutes ist - geistig formal gehoben, gestaltet
(vielleicht für viele das einzige Mittel, überhaupt einen Wert zu gewinnen). Sie sind in
ihrem Leben von starkem geistigem Streben, aber auch anspruchsvoll: sie fühlen sich,
sonst könnten sie ja nicht glauben, zugleich als | Bessere, Auserlesene, Begabte - sie ha- 410
ben ja die Bedingung zu diesem Glauben mitgebracht, den andere nicht verstehen kön-
nen. Wie alle solche Bindung des Religiösen, Absoluten an eine individuelle Erschei-
nung, die maßgebend für eine Gruppe ist, wird dieser Glaube und diese Lebensführung
irreal sein; an Stelle der Liebe tritt Freundschaftskult, an Stelle konkreten Durchdrin-
gens und verzweifelten Erfahrens mit ideenhafter Bewegung auf das Absolute im End-
lichen überhaupt tritt die Ausschließung der Masse, der Realität, des Schicksals durch
 
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