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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0467
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Psychologie der Weltanschauungen

das ultimum refugium des Selbstmords. Einzelne Züge dieser typisierenden Konstruk-
tion wird man vielleicht bei den Pythagoreern, bei spätgriechischen Philosophenschu-
len finden. Jedoch lassen sich hier wie überall die konkreten historischen Einzeler-
scheinungen nicht unter einen schematischen Typus unterordnen. -
Der Trotz gegen Gott lebt sich im Bewußtsein des Menschen aus, selbst Totalität zu
sein. Der Mensch empört sich gegen Gott angesichts der Grenzsituationen, der Furcht-
barkeiten des Daseins, der Ungerechtigkeiten der Welt. Er weist jede Theodicee von
sich, denn Gott ist ihm nicht zu rechtfertigen. Ihm bleibt nur, in dieser Furchtbarkeit
er selbst zu sein, zu wirken, ganz zu werden, zu helfen, wem er will, und zu lieben. Er
kann auf sich selber ruhen, mag er auch zerstört werden. Er wagt es, auf eigene Verant-
wortung allein zu existieren, mit Gott zu kämpfen, seine absolute Selbständigkeit zu
fühlen und zu beanspruchen. Er fühlt sich nicht auf eine Totalität bezogen, sondern
anerkennt diese nur, sofern er sie selbst schafft. Er selbst ist das Ganze, das allein exi-
stiert, er selbst ist unendlich erweiterungsfähig, erhebt den Anspruch grenzenloser
Ausdehnung seines Willens, seiner Macht, seines Schaffens. -
Beide, das Leben in Beziehung auf Gott und im Trotz gegen Gott, sehen Sinn und
ewige Bedeutung als Zukunft - die einzige Form für den endlichen Menschen, sofern
er phantastisch im Unendlichen zu existieren aufhört -, der eine aber weiß sein Selbst
durch Anderes, das er Gott nennt, gesetzt und bedingt, der andere fühlt sich absolut
allein, einsam, mächtig, er ist allein sich selbst Maßstab.
Außer dem Leben in Beziehung auf Gott und im Trotz gegen Gott gibt es eine Er-
weiterung des Ich zu Göttin der Erfahrung des Mystikers. Die Vergottung des Mystikers
ist für diesen Gegensatz Ich-Gott dasselbe, was in den anderen Gegensätzen des Ein-
zelnen und Allgemeinen die Erweiterung des Ich zum Ganzen ist.

Die verschiedenen Gegenüberstellungen von Einzelnem und Allgemeinem oder Gan-
411 zem lassen erkennen, wie vieldeutig der Ausdruck | Individualismus ist, wenn er so
schlechthin gebraucht wird. Was in dem einen Gegensatzpaar individualistisch ist,
kann unter dem Gesichtspunkt eines anderen das Gegenteil sein und umgekehrt: Der
freie Einzelne gegen die Allgemeinheit des Notwendigen pflegt oft oder meistens zu-
gleich der dem Allgemeingültigen Gehorchende gegen die Willkür des Individualisten
zu sein; vom Standpunkt des sozialen Ganzen und der Masse aus ist der Humane Indi-
vidualist.538
Die verschiedenen Allgemeinheiten und Ganzheiten fallen also keineswegs zusam-
men, so daß etwa der Mensch entweder Individualist oder Universalist in allem zu-
gleich sein könnte. Es gibt keinen Individualismus oder Universalismus schlechthin,
sondern nur spezifische Gestalten. Diese entstehen, indem einer der Gegensätze ver-
absolutiert wird, die andern diesem untergeordnet und relativiert werden. Frage ich
also im konkreten Fall nach der Art des Individualismus, ist zunächst festzustellen, wel-
che Polarität die entscheidende ist.
 
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