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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0468
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Psychologie der Weltanschauungen

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Unter dem »Selbst« wird im Sprachgebrauch sowohl der losgelöste, sich widerset-
zende Einzelne als auch gerade der Hingegebene, im Ganzen Aufgelöste und Einge-
gliederte als »wahres Selbst« verstanden. Beide Gestalten sind als entgegengesetzte uns
anschaulich. Hier dagegen wird immerfort gesucht die dritte Gestalt: das Selbst, das
als Einzelnes zugleich das Allgemeine ist. Dieses Paradoxe ist aber nie, ist nicht als Ge-
stalt anschaulich, ist nur werdend, ist das Lebendige. In jedem der Gegensatzpaare ist
die Frage nach diesem dritten Selbst möglich. Diese Frage wird von sich aus, wenn sie
im allgemeinen gestellt wird, alsbald eines jener Gegensatzpaare herausheben. Wo
aber wird dann ein Einheitliches, ein Ganzes, ein Selbst, das alle in sich schließt, sicht-
bar? Darauf ist die Antwort: Wir sehen nur Prozesse, mannigfaltig, sehen nicht ihr Ziel,
nicht ihre Vollendung. Ein ganzes Selbst ist nur da, indem eine hierarchische Ordnung
eintritt, eines der Gegensatzpaare als übergeordnet die andern sich assimiliert, da-
durch daß sie relativiert werden. Damit entsteht aber die Möglichkeit zu verschieden-
artigen »Selbst«, die nur vom Standpunkt einer bestimmten Weltanschauung als rich-
tig und falsch beurteilt werden können, vom Standpunkt des Betrachters aber
nebeneinander gesehen werden müssen. Wenn das Selbst in der Polarität des Religiö-
sen liegt, dann ist z.B. das Soziale gleichgültig und im Konfliktsfall untergeordnet. Der
Religiöse ist, soziologisch gesehen, Individualist (was nicht hindert, daß das Religiöse
selbst soziologische Gestalten annimmt, wobei aber derselbe Konflikt, so der zwischen
kirchlicher und individueller Religiosität, bleibt). Wem das politische Dasein das al-
lein schöpferische ist, wie etwa Macchiavelli, der gibt seine »ewige Seligkeit« für das
Vaterland hin, wenn der Konflikt | da ist; 539 ihm existiert das Selbst wesentlich nur in
der Polarität des Einzelnen und des besonderen soziologischen Ganzen.
Eine objektive Hierarchie der Polaritäten von Einzelnem und Allgemeinem gibt es
nicht für die Betrachtung. Sie ist nur für das Leben und Handeln des Einzelnen da. Für
die Betrachtung gibt es kein absolutes Selbst, sie sieht nicht einen Prozeß des Werdens
dieses Selbst, nicht, worauf etwa allein es ankommt, nicht das eine, das not tut. Die Be-
trachtung kann aber auch nicht zeigen, daß etwa zwischen verschiedenen Möglich-
keiten gewählt werden müsse. Das Wählen ist vielmehr nicht bloß als Akt, sondern
auch als Problemstellung und Aufgabe ganz nur im Leben in der konkreten Situation,
nie objektiv und allgemein für die Betrachtung da.
Bei allem Fließen des »Selbst« für den Betrachter und für die Erfahrung des Leben-
digen gibt es doch das Bewußtsein der Substanz. In der Liebe wird der Andere metaphy-
sisch als Wesen gegenwärtig, in der Selbsterfahrung kann der Mensch sich gegründet,
in einem Ewigen geborgen fühlen. Sowie aber dieses Bewußtsein gegenständlich wer-
den will, wird alles Gegenständliche sofort nur phänomenal; die Substanz muß als das
Unendliche und Unergründliche dahinterstehen. Die Frage, ob wir denn nur Produkt
von Anlage, sich kreuzenden Kausalketten, Prägung und Schicksal seien, und ob wir
nur ein Stadium repräsentieren als Brücke etwa zum Übermenschen, kann nicht be-
antwortet werden; denn alles was wir gegenständlich formuliert über unsere Existenz

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