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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0469
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Psychologie der Weltanschauungen

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denken und sagen, erfaßt nur dieses Phänomenale, das nicht selbst Substanz ist. Das
Bewußtsein der Substanz ist als lebendige Erfahrung unwiderleglich, aber nicht als be-
rechtigt erweisbar. Zwar haben sich immer wieder Vorstellungen gebildet von der Exi-
stenz der individuellen Monade, die wir seien, welche Monaden ewig als die letzten
metaphysischen Elemente die Gestalten der Wiedergeburten durchmachen. Aber sol-
che Vorstellungen der Substanz ergreifen nur das Individuum und lassen die Arten des
Allgemeinen fallen, sind darum ein inadäquater Ausdruck des Substanzbewußtseins.
Substanz braucht keineswegs ein unveränderliches, dauerndes, monadenhaftes zu
sein, sondern sie ist im Gegenteil als Werden da und doch Substanz. Nicht nur solche
metaphysische Vorstellung, auch die Erfahrung des Selbst im Leben führt immer wie-
der zu einer Steigerung des Individualitätsbewußtseins gegen das Allgemeine. Dann
wird das Bewußtsein der Existenz des individuellen Selbst entweder als das Würdige
erlebt, dessen Unterordnung Selbstverrat und böse wäre; oder es wird gerade die Selbst-
bejahung, die Gründung auf sich selbst in Verzweiflung als das Böse erlebt. Die Ur-
413 schuld in metaphysischer Existenz | ist dann die Individualisierung, höchste Schuld
des Menschen, daß er geboren ward. Umgekehrt ist etwa der Selbstmord des Stoikers
Ausdruck für individualistische Isolierung und Selbstbejahung. Gegenüber allen die-
sen Weisen der Akzentuierung oder der Negierung des Individuellen in metaphysi-
scher Steigerung ist im reinen Bewußtsein der Substanz das Vertrauen auf sich selbst
als ein Werden zugleich Symbol des Vertrauens auf ein Unergründliches, Ganzes, das
dahinter steht. Bewußtsein des Individuellen und des Ganzen gehen eine paradoxe
Synthese ein.
Die sechs Gegensätze des Einzelnen und des Allgemeinen ermöglichten die Cha-
rakteristik mannigfacher Formen des Individualismus und des Universalismus. Keiner
der Gegensätze und auch nicht alle auf einmal sind lösbar, sei es für ein bloßes Den-
ken, sei es für die Existenz, als ob hier eine Lösung irgendwann zum Abschluß käme.
Sie sind die Quelle von Verzweiflungen, sie lassen überall erstarrte Formen als Ruhe im
Sichabschließen zu, sie lassen aber Leben nur als Prozeß gedeihen, der diese Gegen-
sätze immerfort löst, ohne eine Lösung als fertige erreichen und anbieten zu können.
Das Selbst wird und ist als lebendiges und unendliches Selbst niemals vollendet. Was
das Selbst sei, bleibt problematisch; wird die Frage, was das Selbst sei, beantwortet, so
wird immer nur eine jener besonderen und einseitig erstarrten Formen genannt. Das
Selbst ist ein Lebensbegriff; das Selbst ist nur in Paradoxen zu umkreisen, nicht zu er-
kennen; es ist zugleich das Allgemeine und Einzelne; da es aber das nicht sein kann,
ist das Selbst bloß werdend. Nach der vorhergehenden Schilderung so vieler Gestal-
ten, die sich um diesen Lebensprozeß gleichsam herumlagern, wird die Frage sein, ob
sich nicht direkter die Prozesse des Selbstwerdens, nicht etwa erkennen, aber doch ins
Blickfeld ziehen lassen.
 
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