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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0470
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Psychologie der Weltanschauungen

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i. Aufopferung des Selbst.
Jedes Werden eines Selbst geht einher mit einem Opfern des Selbst. Welches Selbst wird
geopfert? Entweder die reale Existenz, im Tode (oder im Wagen des Todes), oder die
mannigfaltigen Seiten des Selbst, die nie seine ganze Existenz sind: wirtschaftliche
Kraft, Genuß und Lust, Würde (die selbst gerade so vieldeutig wie das Selbst ist), Anla-
gen und Neigungen.
Der Tod ist die Grenze unseres Lebens, über die kein Blick reicht. Jenseits gibt es nur
die Möglichkeit metaphysischer Weltbilder und die Möglichkeit zeitlosen Sinns. Jen-
seits des Todes des Einzelnen gibt es als Realität die soziologischen Ganzheiten, die
Kultur, die Werke. Für diese aber ist auch die Grenze vorhanden, | nur ferner, nur oft
vom Einzelnen vergessen, dem jene Welten ihm gegenüber wie dauernd erscheinen.
Letzthin kommt der Mensch immer wieder auf metaphysische Weltbilder und zeitlo-
sen Sinn, der aber in diesem Leben entschieden, erworben werden kann. Es kommt in
diesem Leben auf etwas an, das ewige Bedeutung hat, wenn der Mensch über den Tod
hinaussieht und doch nicht nichts findet.
Vorstellungen und Formeln irgendeines Jenseitigen oder Ewigen können vollkom-
men fehlen und doch hat auch dann der Mensch nur Kraft und Selbstbewußtsein
durch eine Verknüpfung mit etwas, das über das zeitlich-räumlich begrenzte Leben
übergreift. Im Prozesse des Selbstwerdens ist es der entscheidendste Schritt, daß die
empirische Existenz als etwas Verlierbares erlebt wird und doch eine Existenz eines
Selbst im Verlust der zeitlichen Existenz glaubend erfahren wird. (Wie diese formuliert
wird, ist dabei zunächst gleichgültig; der Prozeß der Formulierungen tendiert von fe-
sten, greifbaren Vorstellungen zu bloßen Sinnformulierungen; aber auch darin hält er
nicht stand, da Sinn etwas menschlich Relatives wird, nur vergleichsweise, analogisch
gemeint sein kann; und die Formulierungen enden in Paradoxien, sofern sie allgemein
sein wollen, sind aber ganz konkret, absolut individuell, unübertragbar, wenn das be-
zeichnet wird, worauf es dem Einzelnen, der sein Leben wagt, ankommt.)
Daß der Mensch sein Leben wagt, wird ihm so der einzige lebendige - so allgemein
allerdings nur negative - Beweis, daß er ein »Selbst« ist und wird. Im Wagnis des Le-
bens wird die empirische Existenz relativiert und dadurch ein absolutes, zeitloses
Selbst der Idee nach ergriffen. Hegel formuliert diese Erfahrung: »Nur dadurch, daß
der Mensch sich selber, wie Andere, in die Gefahr des Todes bringt, beweist er auf die-
sem Standpunkt') seine Fähigkeit zur Freiheit.«")540 »Das Individuum, welches das Le-
ben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahr-
heit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewußtseins nicht
erreicht.«1")541 Das Selbstbewußtsein »bewährt« sich erst durch den Tod.

i »Standpunkt« in der Stufenfolge der Phänomenologie des Geistes.
ii W. W. 7, II, 276.
üi Phänomenologie S. 126.

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