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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0471
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378

Psychologie der Weltanschauungen

Das Wagen des Lebens, das Opfern der zeitlichen Existenz, so allgemein aufgefaßt,
hat zwar immer das Pathos, das an allen Grenzen besteht, aber es ist vieldeutig. Es kann
das affektbedingte, zufällige, unbewußte Risiko und kann das bewußte, aus dem Gan-
zen einer Persönlichkeit entspringende Wagen sein; es kann halb getrieben, nachah-
mend, ja gezwungen sein, und es kann aus ursprünglichstem Impuls, aus freiem Wol-
415 len in hellstem Bewußtsein geschehen. Daß | die Tatsache, daß jemand sein Leben
gewagt hat, objektiv für den Wert einer Sache nichts beweist (der läßt sich überhaupt
nicht beweisen), ist selbstverständlich; es ist nur ein Beweis möglich, daß dem Einzel-
nen etwas absolut wesentlich war, daß ihm hier ein ewiger Sinn als erlebte Kraft vor-
lag (nicht notwendig als Formel; in den Formeln täuscht er sich vielleicht über sich
selbst). Aber selbst dieses subjektive Faktum eines erlebten Absoluten ist noch nicht
erwiesen durch das Wagen als solches. Denn die Weite und Helligkeit des Bewußtseins,
die faktischen Motive geben so viele Möglichkeiten, daß das bloße Wagen des Lebens
sogar zufällig und für das Selbst unwesentlich sein kann, so daß es als verzerrte Kari-
katur wirkt. So ist zwar etwas Gemeinsames, aber doch auch prinzipiell Unterschiede-
nes, ob jemand sein Leben im Krieg, im Duell, im Sport, im wissenschaftlichen Expe-
riment wagt.
Das Pathos des Wagnisses des Lebens führt leicht dazu, es mit einem Schleier zu
umgeben: der Mensch, der es wagte, wird für den Betrachter selbst absolut, unantast-
bar; der Mensch, der es wagte, macht vielleicht selbst den Anspruch, nun überall so
absolut, so unegoistisch, so auf das Ewige und Gemeinsame gerichtet zu sein. Das ist
in der Mehrzahl der Fälle natürlicherweise nicht so. Derselbe Mensch, der in einer Hin-
sicht zum äußersten Opfer, zum Wagen der Existenz, ernsthaft bereit ist, ist in ande-
rer Hinsicht ganz persönlich interessiert, machtbedürftig, ohne jede Fähigkeit zum
Verzicht. Wer für den Staat sein Leben opfert, opfert vielleicht kein Geld, arbeitet nur
für die Interessen eines Standes, einer Gruppe, seiner empirischen Existenz, die er als
Ganzes zu opfern bereit ist, im einzelnen aber nicht beschneiden lassen, sondern zur
alleinigen Macht ausdehnen will. Hegel spricht davon, daß, auf einem Standpunkt
»die Handlungen der Ehre ... das Zweideutige bleiben..., das noch jenen abgeschiede-
nen Hinterhalt der besonderen Absicht und des Eigenwillens« hat?)542 »Die Aufopfe-
rung des Daseins, die im Dienste (des Staates) geschieht, ist zwar vollständig, wenn sie
bis zum Tode fortgegangen ist; aber die bestandene Gefahr des Todes selbst, der über-
lebt wird, läßt ein bestimmtes Dasein und damit ein besonderes Fürsich übrig, welches
den Rat fürs allgemeine Beste zweideutig und verdächtig macht und sich in der Tat die
eigene Meinung und den besonderen Willen gegen die Staatsgewalt vorbehält.«")543
Das wäre nur eine Möglichkeit unter vielen, die zeigen, wie das Wagen des Lebens, so
sehr es ein Akt des Selbstwerdens ist, doch leicht etwas Vereinzeltes bleiben kann. Wei-

i Phänom. d. Geistes S. 330.
ii 1. C. S. 329.
 
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