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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0473
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38o

Psychologie der Weltanschauungen

der man trinke oder entferne sich.< Und ganz recht... So mag man die Schläge des Ge-
schickes, die man nicht ertragen kann, verlassen, indem man sich denselben entzieht.«
Dem Sichopfern im Wagen des Lebens und im Tode steht das Sichopfern bei erhalte-
ner vitaler Existenz gegenüber; in abstraktester Form als »Leben um jeden Preis«: Man
unterwirft sich, gibt hin, was verlangt wird, wird abhängig und gedemütigt und be-
wahrt dadurch sein bloßes »Leben«. Der Selbsterhaltungstrieb besiegt andere Triebe;
diese Gestalt entspricht der platonischen Schilderung, wie Begierden durch Begierden
gebändigt werden und eine Disziplinierung - hier durch den Willen zum Leben um je-
den Preis - entsteht, ohne daß eine Idee die treibende Kraft ist. Dieses Leben kennt kein
Absolutes, das über das Leben hinaus Sinn und Bedeutung hat, kann daher alles tun
und erfahren, wenn es nur dafür am Leben bleibt.
Diesem Dasein ist es das schwerste, das Leben zu riskieren, lieber will es jede Last
tragen, jede Leistung auf sich nehmen. Demgegenüber war die abstrakteste Gestalt des
Wagens: daß der Mensch auf nichts verzichten, nichts leiden, nichts tragen, und
nichts Eigentliches leisten will; ihm ist es das relativ leichteste, das Leben zu riskieren.
Das Wagnis des Lebens ist leicht, sofern es ein akuter Akt, ein pathetischer, affektvol-
ler Rausch sein kann; schwer, sofern das Aufhören der Existenz voll im Bewußtsein ist.
Das Opfern, Verzichten, Verlieren, Leisten, Tragen usw. ist schwer, sofern es eine fort-
gesetzte Disziplin, ein Tag für Tag, Stunde für Stunde Durchdringendes ist; leicht, so-
fern die Existenz erhalten wird. In beiden Fällen kann es sein, daß von einem eigent-
lichen Werden des Selbst noch nicht die Rede ist. Niemand, der sein Leben nicht
gewagt hat und zu wagen bereit ist, wird sich echt und verläßlich als ein geistiges Selbst
empfinden, aber darum doch nicht jeder, der es gewagt hat. Dazu muß das Wagen der
Existenz der Gipfel eines Sichopfernkönnens im Einzelnen sein, das Letzte einer Reihe,
in der der Mensch auf viele Gestalten des Selbst opfernd verzichtet, um Selbst zu wer-
den. Nur sofern das Sichwagen und Sichopfern die ganze Existenz durchdringt, wird
ein geistiges Selbst.
418 | Man kann auch sagen: Jede Form des natürlichen Selbst wird der Potenz nach auf-
gehoben, damit das Selbst des Geistes werde (das heißt als ein Allgemeines sich ver-
wirkliche): wirtschaftliche Macht, Genuß und Lust, Anlagen und Neigungen, Triebe
und Bedürfnisse, die Arten der Würde. Diese Bewegung ist der Gegensatz zur Bewe-
gung, die der Potenz nach im Selbstmord endet. Die Grundgesinnung dieses Selbst-
werdens ist: daß man durch seinen bloßen Untergang das Gute nicht hervorbringt,
daß es vielmehr darauf ankommt, konkret zu leben und im Konkreten im Selbstwer-
den wirklicher zu werden. Das endliche Dasein verlangt ein Wagen des Lebens, aber
diese Gesinnung wünscht einen günstigen Ausgang des Wagnisses, nicht um nun auf
Lorbeeren auszuruhen, sondern in aller Weise das Selbstwerden zu erfahren in dem
Prozeß, der immer wieder Gestalten des endlichen Selbst in Frage stellt.
Hier aber gibt es nun nicht objektiv eine Reihe, an deren Spitze ein absolutes Selbst
stünde, etwa das religiöse oder das politische oder das humane, sondern alle diese fin-
 
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