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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0476
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Psychologie der Weltanschauungen

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nerlichkeit nennt1).553 Er beginnt durch die Reflexion mit dem »Akt der Absonderung, worin das
Selbst auf sich selbst als von der Umgebung und Außenwelt und ihrem Einfluß wesentlich ver-
schieden aufmerksam wird«“).554 Er gewinnt in der Selbstreflexion das »Bewußtsein von einem
Selbst« »durch die unendliche Abstraktion von allem Äußeren«, und dieses Selbst ist »das Vor-
wärtstreibende in dem ganzen Prozesse, wodurch ein Selbst sein wirkliches Selbst mit dessen
Schwierigkeiten und Vorzügen unendlich übernimmt«'")-555
Immerfort hat das Selbst etwas, demgegenüber es ein Selbst ist. Mit dem Werden des Selbst ist
jeweils ein konkretes Selbstbewußtsein verbunden, dieses aber wird und erstarrt nicht, solange
das »Selbst« im eigentlichen Sinne lebt. »Das Kind, das bisher nur die Eltern zum Maßstab hatte,
wird ein Selbst, indem es als Mann den Staat zum Maßstab bekommt; aber welch unendlicher
Akzent fällt auf das Selbst, wenn es Gott zum Maßstab bekommt! Den Maßstab für das Selbst
bildet immer: was das ist, dem gegenüber es ein Selbst ist... Je mehr Vorstellung von Gott, um
so mehr Selbst; je mehr Selbst, um so mehr Vorstellung von Gott«i * * iv).556
Der Prozeß des Selbst-Werdens haftet immer am lebendigen Selbstbewußtsein, »das so kon-
kret ist, daß kein Schriftsteller, auch nicht der wortreichste und der die größte Gewalt der Dar-
stellung besitzt, jemals vermocht hat, ein einziges solches Selbstbewußtsein zu beschreiben, wäh-
rend | jeder einzelne Mensch es hat«v vi vii).557 Hier ist der Mensch nicht betrachtend, sondern hier
greift seine Tat an. Hier ist er der einzige von niemandem als ihm selbst kontrollierbare Horcher,
dessen Horchen ein Tun ist; was er bemerkt, bestimmt sein Handeln nach innen und außen. Hier
zeigt sich der tiefste Gegensatz der Kräfte des Selbst-Werdens: Der Mensch kann entweder »offen-
barwerden« wollen, durchsichtig, klar werden wollen; oder er kann sich gegen das Offenbarwer-
den sträuben, übersehen, verstecken, vergessen. Beide Kräfte, in jedem Menschen vorhanden, lie-
gen miteinander im Kampf. Das Offenbarwerden ist nie vollendet; so lange der Mensch existiert,
lebt er in dem Prozesse oder schließt sich in eine endgültige Undurchsichtigkeit ab.
Das Offenbarwerden ist ein Prozeß im einzelnen und zugleich in Kommunikation. Sich auf-
schließen, sich in Frage stellen, sich ganz geben, wie man ist und wird, das ist dem Menschen
einsam vor sich selbst und in der Liebe auch kommunizierend möglich.558 »Offenheit, Aufrich-
tigkeit, absolute Wahrhaftigkeit in allem und jedem; das ist das Lebensprinzip der Liebe ... Of-
fenheit hat natürlich nur da Sinn, wo man versucht ist, etwas zu verschweigen. Es gehört Mut
dazu, sich ganz zu geben, wie man ist, es gehört Mut dazu, sich nicht von einer kleinen Demüti-
gung loszukaufen, sich nicht ein Relief zu geben, wo man das durch Verschweigen wohl
könnte«'1).559 Diese Offenheit nach außen ist von solcher Wirkung und Rückwirkung, den Prozeß
des Selbstwerdens fördernd, nur in der Liebe. Die hemmungslose Offenheit, das Herausschwat-
zen ist ein bloß äußeres Verhalten ohne den Prozeß der Innerlichkeit, den sie vielmehr stört, da
sie an seine Stelle ein bloßes Spiegeln im andern setzt. Eine »handgreiflich offenbare Beichte« ist
eine bloß äußere, die als solche nichts nützte™).560 Der Prozeß des Offenbarwerdens ist darum
nicht durch beliebige Offenheit überall und vor jedermann, sondern geradezu durch eine Ver-

i V, T42.
ü VIII, 52.
üi VIII, 53.
iv VIII, 7Öff.
v V, T42.
vi II, 88/89.
vii V, T2Ö.

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