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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0477
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384

Psychologie der Weltanschauungen

schlossenheitnach außen charakterisiert: »Je bestimmter... das Gewissen in einem Menschen entwic-
kelt ist, desto weiter ist er ausgeweitet, wenn er sich im übrigen auch von der ganzen Welt
abschließt«1).561 Sokrates’ Ironie war »eben die Verschlossenheit, die damit begann, sich gegen
die Menschen abzuschließen, sich mit sich selbst einzuschließen, um sich in dem Göttlichen
auszuweiten«“).562 »Nie ist eine Individualität in schönerem und edlerem Sinne ausgeweitet, als
wenn sie in dem Mutterleibe einer großen Idee eingeschlossen ist«iU).563
Die Verschlossenheit, die nicht bloß jene relative nach außen, sondern absolut, nach innen
gerichtet ist, die vor sich selber versteckt, verdunkelt, verschiebt, ist die Gegenkraft zum Pro-
zesse des Offenbarwerdens. Kierkegaard nennt das Offenbarwerden Freiheit, dieses Sichein-
schließen Unfreiheit. Diese absolute Verschlossenheit schließt sich nicht mit irgend etwas ein
(wie der im Mutterschoß der Idee lebende), sondern in ihr schließt der Mensch sich selbst ein;
»und darin liegt das Tiefsinnige im Dasein, daß die Unfreiheit eben sich selbst zum Gefangenen
macht. Die Freiheit ist beständig kommunizierend; die Unfreiheit wird mehr und mehr ver-
schlossen und will die Kommunikation nicht«iv).564
Die beiden Arten der Verschlossenheit, mit demselben Namen genannt, sind so wesensverschie-
422 den, daß sie schlechthin entgegengesetzte | Bedeutung haben. Sie zu verwechseln, heißt über
zentrale Kräfte des Geistes unklar sein. Die stärkste Entwicklung dieser entgegengesetzten Kräfte
setzt schon beim Kind ein. Kierkegaard macht hier eine pädagogische Bemerkung: »Es ist von
unendlicher Wichtigkeit, daß das Kind durch die Vorstellung von der erhabenen Verschlossenheit
gehoben wird und vor der mißverstandenen bewahrt bleibt. In äußerer Beziehung ist es leicht zu
beurteilen, wann man ein Kind allein gehen lassen darf, nicht so in Beziehung auf das Geistige
... Die Kunst ist hier, beständig gegenwärtig zu sein und doch nicht gegenwärtig zu sein, damit
das Kind wirklich sich selbst entwickeln kann und man doch stets einen klaren Überblick über
seine Entwicklung behält. Die Kunst ist, im höchsten Grade, nach dem größtmöglichen Maß-
stabe das Kind sich selbst zu überlassen und dies anscheinende Gehenlassen so einzurichten,
daß man zugleich unbemerkt um alles Bescheid weiß ... Und der Vater oder Erzieher, der alles
für das anvertraute Kind tut, aber nicht verhinderte, daß es verschlossen wurde, hat sich trotz-
dem die größte Verantwortung zugezogen«v).s6s
Der Prozeß des Offenbarwerdens ist identisch mit dem Selbstwerden, d.h. dem paradoxen
Werden, in dem der Einzelne zugleich absolut Einzelner und allgemein wird. Die Idee der voll-
kommenen Durchsichtigkeit und Offenbarkeit - im Endlichen immer nur Idee - würde verwirk-
licht den Prozeß des Selbstwerdens vom Werden erlöst haben. Im Endlichen aber ist immerfort
der Kampf zwischen dem Offenbar werden und dem Sichverschließen. In diesem Kampfe schrei-
tet das Offenbarwerden voran oder wird scheinbar das Verschließen ein Endgültiges. Die Ge-
stalten, die auf dem Wege des Prozesses liegen, sind weder absolut offen noch absolut verschlos-
sen, sondern liegen zwischen diesen Grenzbegriffen. Wir folgen den Typen, wie Kierkegaard
sie konstruiert hat:
Vor dem sichtbaren Kampf liegt, was Kierkegaard die Unmittelbarkeit nennt: »Es kommt im
Leben des Menschen ein Augenblick, da ist die Unmittelbarkeit gleichsam reif geworden, und

‘ V, 133.
ü V, 133ff.
iii V, 123.
iv V, 123.
v V, I25ff.
 
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