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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0478
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Psychologie der Weltanschauungen

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der Geist verlangt eine höhere Form, worin er sich selbst als Geist ergreifen kann. Als unmittel-
barer Geist ist der Mensch verstrickt in das ganze irdische Leben, nun will der Geist sich gleichsam
aus dieser Zerstreutheit sammeln; die Persönlichkeit will sich selbst durchsichtig, will ihres ewigen
Rechts bewußt werden. Geschieht das nicht, wird die Bewegung gehemmt und zurückgedrängt, so
tritt Schwermut ein. Man kann viel tun, damit diese Stockung im Geistesleben nicht zum Bewußt-
sein komme; man kann arbeiten und andere Mittel anwenden... gehoben ist die Schwermut da-
mit nicht. Es ist etwas Unerklärliches in der Schwermut... Fragt man den Schwermütigen, was
ihn so schwermütig mache ... so wird er antworten: Das weiß ich nicht... Seine Antwort ist üb-
rigens ganz richtig; denn sobald er sich in seiner Schwermut versteht, ist sie gehoben, während der
Kummer mit der Erkenntnis seiner Ursache nicht gehoben ist... Schwermut ist die Sünde, nicht
tief und innerlich zu wollen ... Schwermut... befällt im allgemeinen nur die begabtesten Natu-
ren ... Der Mensch... wird immer etwas Schwermut zurückbehalten; das hat seine weit tiefere Ur-
sache ... die es dem Menschen unmöglich macht, sich | selbst ganz durchsichtig zu werden. Kennt
die Seele gar keine Schwermut, so hat das den Grund, daß sie keine Metamorphose mehr ahnt«1).566
In dieser Stelle ist alles Wesentliche des in der Erscheinung unendlich mannigfaltigen Pro-
zesses angedeutet: Es gibt zwei Kräfte: durchsichtig werden wollen und nicht bewußt werden
wollen; es geschieht die Transformation der gehemmten Kraft des Offenbarwerdenwollens in
Schwermut“);567 diese Schwermut ist die Unfreiheit, das Unerklärliche, anscheinend Gegebene;
aber sie wird gehoben, wenn der Mensch sich in der Schwermut selbst versteht, d.h. der Prozeß
des Offenbarwerdens durchdringt; da der Mensch aber letzthin immer sich irgendwie undurch-
sichtig bleibt, bleibt auch immer Schwermut; verschwindet sie ganz, so ist das ein Zeichen, daß
das Leben des Geistes aufgehört hat.
Die Mannigfaltigkeit der Gestalten, in denen der Prozeß des Kampfes gleichsam relativ dau-
ernde Formen annimmt, ist unendlich; »denn die Produktionskraft des geistigen Lebens steht
hinter der des natürlichen nicht zurück, die geistigen Zustände sind in ihrer Verschiedenheit
zahlloser als die Blumen«“1).568 Zahlreich sind die Wege der Ablenkung und Verdunkelung: »Bequem-
lichkeit, die ein andermal denken will«; die »Neugier, die nichts weiter wird als Neugier«; »der
unendliche Selbstbetrug«; die »weibische Schwächlichkeit, die sich mit anderen vertröstet«; das
»fromme Ignorieren«; die »dumme Geschäftigkeit«i * * iv).569 »Oder er versucht vielleicht durch Zer-
streuungen oder auf andere Weise, z.B. durch Arbeit und Geschäftigkeit als Zerstreuungsmittel,
für sich selbst eine Dunkelheit über seinen Zustand zu bewahren, jedoch wieder so, daß ihm
nicht ganz deutlich wird, daß er es deshalb tut, daß er, was er tut, nur tut, um Dunkelheit zu
schaffen«v).57°
Der Weg des Offenbarwerdens ist die Innerlichkeit; diese ist nach Kierkegaard ein Verste-
hen der Ewigkeit. »Leugnung der Ewigkeit kann sich auf verschiedene Weise äußern: als Spott,

i II, 159/160.
ü Kierkegaard nennt darum diese Schwermut »Hysterie des Geistes«. Wer eine Verwandtschaft zu
Freud finden will, halte sich gegenwärtig, daß bei aller Analogie im Begriff der Transformation
die verdrängten Kräfte bei Freud gleichsam die untersten (sexuellen) bei Kierkegaard die höch-
sten (das Sichdurchsichtigwerdenwollen der Persönlichkeit) sind.
üi V, I2Öff.
iv V, 137.
v VIII, 46.

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