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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0480
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Psychologie der Weltanschauungen

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Kierkegaard entwickelt für das »Ausbleiben der Innerlichkeit« (die bei ihm identisch ist mit
dem Selbst-Werden, Offenbarwerden), ein Schema. Sie bleibt ja nicht mechanisch aus, sondern
durch Handeln, bzw. Geschehenlassen des Individuums; es steckt, wie Kierkegaard sagt, im-
mer Aktivität und Passivität darin, und je nach dem Primären der einen oder anderen gibt es je-
desmal ein Paar von Phänomenen, in denen bei Ausbleiben der Innerlichkeit das Individuum
sich festrennt. So entsprechen Unglaube und Aberglaube einander, beide ermangeln der Inner-
lichkeit. »Wesentlich gesehen sind sie identisch. Beide sind Angst vor dem Glauben... Der Aber-
glaube ist ungläubig gegen sich selbst, der Unglaube abergläubisch gegen sich selbst... Die Be-
quemlichkeit, Feigheit, Pusillanimität des Aberglaubens findet es besser, in ihm zu bleiben, als
ihn aufzugeben; der Trotz, Stolz, Hochmut des Unglaubens findet es kühner, in ihm zu bleiben,
| als ihn aufzugeben. Die raffinierteste Form einer solchen Selbstreflexion ist stets, daß man sich 425
selbst interessant wird, indem man aus diesem Zustand herauszukommen wünscht und doch
in selbstgefälliger Behaglichkeit darin bleibt«1).576 - Oder ein anderes Paar: Stolz und Feigheit sind
identisch. »Der Stolz ist eine profunde Feigheit; denn er ist feig genug, nicht verstehen zu wol-
len, was in Wahrheit das Stolze ist... Es ist im Leben auch schon der Fall vorgekommen, daß eine
sehr stolze Individualität feig genug war, nie etwas zu wagen, feig genug möglichst wenig sein
zu wollen, damit eben ihr Stolz nicht angetastet würde«11).577 An anderer Stelle spricht Kierke-
gaard, wenn er schildert, was bei fehlendem Durchsichtigwerden entsteht, von dem »betäu-
benden Trank, den Trotz, Verzagtheit, Feigheit und Stolz mischen«111).578
Alle Gestalten, in denen das Selbst- oder Offenbarwerden unterbunden ist, nennt Kierke-
gaard »Verzweiflung«. Unter einem weiteren Gesichtspunkt schildert er in der Zunahme des
Bewußtseins oder der Durchsichtigkeit jeweils spezifische Arten, wie das Selbst vom Allgemei-
nen sich ab, einem Endlichen sich zuwendet. Dabei kann der Mensch verzweifelt nicht er selbst
sein wollen oder verzweifelt, zum Trotz er selbst, wie er ist, nicht wie er wird, sein wollen. Diese Ge-
stalten schildert Kierkegaard etwa soi ii iii iv):579
a. Verzweifelt nicht man selbst sein wollen:
1. Verzweiflung über das Irdische oder etwas Irdisches:
Hier ist kein unendliches Bewußtsein vom Selbst... Die Verzweiflung ist ein bloßes Leiden, ein
Unterliegen unter dem äußeren Druck, sie kommt keineswegs als Handlung von innen ... Das,
worin der Unmittelbare sein Leben hat, wird ihm durch einen »Schicksalsschlag« geraubt... Er
nennt sich verzweifelt, er betrachtet sich als tot, als einen Schatten von sich selbst. Wenn nun
plötzlich alles sich veränderte, alles Äußere, und der Wunsch sich erfüllte, so kommt wieder Le-
ben in ihn... Aber dies ist die einzige Weise, wie die Unmittelbarkeit zu kämpfen weiß, das Ein-
zige, was sie weiß: verzweifeln und ohnmächtig werden. Sie ... liegt ganz still, als wäre sie tot,
ein Kunststück, wie »tot daliegen« ... Kommt Hilfe von außen, beginnt wieder neues Leben ...
Kommt keine äußere Hilfe, kommt doch gleichwohl in die Person Leben, aber: »er selbst wird
er nie wieder«, sagt er ... Im Augenblick der Verzweiflung liegt ihnen kein Wunsch so nahe als
der, ein anderer geworden zu sein oder ein anderer zu werden ... Denn der Unmittelbare kennt

i V, i43ff.
ii V, 144ff.
iii 11,105.
iv VIII, 47-72.
 
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