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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0482
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Psychologie der Weltanschauungen

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schlossene Tür, und hinter ihr sitzt gleichsam das Selbst und gibt auf sich selbst acht, indem es
die Zeit damit ausfüllt, daß es nicht es selbst sein will, und indem es doch genug Selbst ist, sich
selbst zu lieben. Das nennt man Verschlossenheit.| Er ist ein studierter Herr, ist Mann, Vater,
tüchtiger Beamter, sehr freundlich gegen seine Frau, die Fürsorge selbst gegen seine Kinder. Und
ein Christ? nun ja, jedoch vermeidet er am liebsten davon zu reden. Zur Kirche geht er selten,
weil es ihm vorkommt, als ob die meisten Pfarrer eigentlich nicht wüßten, wovon sie redeten.
Er macht eine Ausnahme mit einem ganz einzelnen Pfarrer, doch den mag er nicht hören, weil
er eine Furcht hat, das könnte ihn zu weit führen. Dagegen empfindet er nicht selten ein Ver-
langen nach Einsamkeit, sie ist ihm Lebensbedürfnis. Der verschlossene Verzweifelte lebt nun
dahin, in Stunden, die, wenn auch nicht für die Ewigkeit gelebt, so doch etwas mit dem Ewigen
zu tun haben; er ist mit dem Verhältnis seines Selbst zu sich selbst beschäftigt; aber er kommt
eigentlich nicht weiter. Wenn das Bedürfnis nach Einsamkeit befriedigt ist, so geht er gleich-
sam aus, selbst wenn er heimgeht und sich mit seiner Frau und seinen Kindern einläßt. Was ihn
als Ehemann so freundlich und als Vater so fürsorglich macht, ist außer seiner natürlichen Gut-
mütigkeit und seinem Glücksgefühl das Eingeständnis seiner Schwachheit, das er sich selbst in
seinem verschlossenen Innern gemacht hat. Wäre es für jemand möglich, Mitwisser seiner Ver-
schlossenheit zu werden, und dieser würde zu ihm sagen: »Das ist ja Stolz, du bist ja eigentlich
auf dein Selbst stolz«, so würde er dies wohl kaum einem anderen eingestehen. Wenn er dann
mit sich selbst allein wäre, würde er wohl zugeben, daß etwas daran sei... Eine solche Verzweif-
lung ist in der Welt ziemlich selten.
Ein solcher Verschlossener marschiert auf der Stelle. Wird diese Verschlossenheit bewahrt,
so wird Selbstmord die Gefahr sein, die am nächsten liegt. Redet er dagegen mit jemand, öffnet
er sich einem einzigen Menschen, so ist er aller Wahrscheinlichkeit nach so weit herabgespannt,
daß aus der Verschlossenheit nicht der Selbstmord folgt. Doch kann es geschehen, daß er ge-
rade, indem er sich einem anderen geöffnet hat, darüber verzweifelt, daß es ihm so vorkommt,
als wäre es doch unendlich viel besser gewesen, wenn er in Verschwiegenheit ausgehalten hätte.
Man könnte sich einen Tyrannen denken, der den Drang empfindet, mit einem Menschen von
seiner Qual zu reden, und so sukzessive eine Menge Menschen verbraucht; denn sein Vertrau-
ter zu werden, war der gewisse Tod: Sobald sich der Tyrann gegen ihn ausgesprochen hatte,
wurde er getötet.
ß. Die Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen, Trotz:
Zuerst kam die Verzweiflung über das Irdische, dann die Verzweiflung über sich selbst am Ewi-
gen. Dann kommt der Trotz. Vermöge des Ewigen hätte das Selbst Mut dazu, sich selbst zu ver-
lieren, um sich selbst zu gewinnen; hier will es dagegen nicht damit beginnen, daß es sich selbst
aufgibt, sondern will sich selbst behaupten. Hier ist sich die Verzweiflung bewußt, daß sie eine
Tat ist, sie kommt nicht von außen wie ein Leiden unter dem Druck der Außenwelt, sondern
kommt direkt vom Selbst. Vermöge des Bewußtseins von einem unendlichen Selbst will das
Selbst verzweifelt über sich selbst schalten und walten, oder sich selbst schaffen, der Mensch
will ein Selbst zu dem Selbst machen, das er sein will. Sein konkretes Selbst hat ja Notwendig-
keiten und Grenzen, ist etwas ganz Bestimmtes, mit diesen Kräften, Anlagen usw., in dieser Kon-
kretion der Verhältnisse. Aber vermöge der unendlichen Form unternimmt er erst, dies Ganze
umzubilden, um dann ein Selbst, wie er will, herauszubekommen. | Er will sein Selbst nicht an-
ziehen, in dem ihm gegebenen Selbst nicht seine Aufgabe sehen, er will es vermöge der unend-
lichen Form, die es ist, selbst konstruieren. Er verhält sich eigentlich beständig bloß experimen-

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