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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0483
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Psychologie der Weltanschauungen

tierend zu sich selbst. Er kennt keine Macht über sich, daher fehlt ihm im Grunde der Ernst, und
er kann nur einen Schein von Ernst vorspiegeln, wenn er seinen Experimenten seine allerhöch-
ste Aufmerksamkeit selbst schenkt. Ganz unwillkürlich kann er jeden Augenblick von vorn an-
fangen. So wenig glückt es dem Selbst, immer mehr es selbst zu werden, daß es sich nur immer
klarer als ein hypothetisches Selbst zeigt. Dieser absolute Herrscher ist ein König ohne Land.
Das verzweifelte Selbst baut beständig nur Luftschlösser und ficht beständig in die Luft. Es be-
zaubert einen Augenblick; eine solche Selbstbeherrschung, eine solche Unerschütterlichkeit,
eine solche Ataraxie usw. grenzt fast ans Fabelhafte. Das Selbst will verzweifelt die ganze Befrie-
digung genießen, daß es sich zu sich selbst macht, sich selbst entwickelt, es selbst ist, es will von
dieser dichterischen, meisterhaften Anlage, wie es sich selbst verstanden hat, die Ehre haben.
Und doch bleibt im Grunde ein Rätsel, was es unter sich selbst versteht. - Solch ein experimen-
tierendes Selbst stößt vielleicht auf diese oder jene Schwierigkeit, auf irgendeinen Grundscha-
den. Das Selbst fühlt sich wie Prometheus an dieses Servitut geschmiedet. Es ist also hier ein lei-
dendes Selbst. Dieser Verzweifelte, der verzweifelt er selbst sein will, will nun nicht, daß dieser
Schaden gehoben werde. Er hat sich davon überzeugt, daß dieser Pfahl im Fleisch so tief nagt,
daß er nicht davon abstrahieren kann; darum will er ihn gleichsam ewig übernehmen. Er nimmt
von ihm den Anlaß, sich am ganzen Dasein zu ärgern, und will nun zum Trotz er selbst sein, mit
ihm er selbst sein. Lieber will er, wenn es so sein soll, mit allen Höllenqualen er selbst sein, als
Hilfe suchen. Ein Leidender hat allerdings gern ein oder mehrere Weisen, wie er sich Hilfe
wünscht. Wird ihm so geholfen, ja, dann läßt er sich gern helfen ... Wenn es aber in tieferem
Sinne Ernst wird, daß geholfen werden soll, besonders von einem Höheren oder dem Höchsten,
diese Demütigung, wie ein Nichts in der Hand des Helfers, dem alles möglich ist, werden zu
müssen, dann zieht er langwieriges und qualvolles Leiden vor.

Das Dämonische.
Der Mensch, der in vollem Bewußtsein zum Trotz er selbst sein will, wird »dämonisch«. Das voll-
kommen Dämonische ist sich selbst durchsichtig, insofern Geist, aber in der Durchsichtigkeit
hält es trotzend an seinem zufälligen Selbst fest. »Der Teufel ist nur Geist und insofern absolu-
tes Bewußtsein und Durchsichtigkeit; in ihm ist keine Dunkelheit..., daher ist seine Verzweif-
lung der absoluteste Trotz«1).580 In dieser Grenzkonstruktion zeigt Kierkegaard die Kraft, die
über den Gegensatz des Offenbar- und Verschlossenwerdens hinaus ein Wille zum endlichen,
zufälligen Selbst ist. Es schien zunächst, daß das Offenbarwerden als solches zugleich Selbst-
Werden und dieses Selbst-Werden als solches Allgemeinwerden in der Gestalt des absolut Ein-
zelnen sei. Jetzt konstruiert Kierkegaard eine Gestalt, die ganz durchsichtig wird und doch
ein nicht-allgemeines Selbst trotzend festhält. Dieser Wille in der Durchsichtigkeit ist ihm das
429 Dämo|nische. Dämonisch ist also weder die Kraft, die zum Offenbarwerden, noch die zum Ver-
schlossenen drängt, als solche, sondern beider kann sich der dämonische Wille bemächtigen.
Das Dämonische ist bei Kierkegaard nicht ganz eindeutig. Zuweilen hat es ihm dieselbe Be-
deutung, die es im vorigen Abschnitt dieser Darstellung hatte; meistens ist es dieser Wille, den
er den Willen zum Bösen nennt. Wir gehen in der Wiedergabe der KiERKEGAARDschen Gedan-
ken zunächst vom weiten Begriff des Dämonischen aus, um dann zum engeren, hier allein in
Frage kommenden, zurückzukehren:

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