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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0485
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392

Psychologie der Weltanschauungen

er begann mit der unendlichen Abstraktion vom Selbst, und nun ist er zuletzt so konkret gewor-
den, daß es eine Unmöglichkeit sein würde, in der Weise ewig zu werden (wie mir scheint, eine
andere Ausdrucksweise Kierkegaards für das Allgemeinwerden), und doch will er verzweifelt
er selbst sein... Diese Art Verzweiflung sieht man in der Welt selten... In dieser Verzweiflung will
man nicht einmal in stoischer Vergaffung in sich selbst und Selbstvergötterung man selbst sein,
will nicht wie sie, freilich lügnerisch, aber doch in gewissem Sinn nach seiner Vollkommenheit
man selbst sein, nein, man will in Haß gegen das Dasein man selbst sein, man selbst nach sei-
ner Jämmerlichkeit ... Man meint, indem man sich gegen das ganze Dasein empört, einen Be-
weis gegen dieses, gegen dessen Güte zu haben. Dieser Beweis meint der Verzweifelte selbst zu
sein, und der will er sein ..., um mit dieser Qual gegen das ganze Dasein zu protestieren«1).588
»Von einem solchen Dämonischen, der das Entsetzliche des ganzen Zustandes in sich aus-
prägt, bekommt man daher ganz im allgemeinen die Replik: >Ich bin nun einmal so, laß mich
in Ruhe<; oder kann ein solcher sagen, wenn er von einem bestimmten Zeitmoment seines ver-
gangenen Lebens spricht: >Damals hätte ich noch gerettet werden könnem, die entsetzlichste
Replik, die man sich denken kann«“).589
Der dämonische Wille besteht nun fast nie bei Durchsichtigkeit. Er kann sich nur im Dun-
keln erhalten. So ist er allermeist eine Kraft, die sich gegen Durchsichtigkeit sträubt, die alle
Kräfte der Verschlossenheit verstärkt. Das Dämonische vermag meistens den Menschen nur zu
beherrschen, indem es sich vor ihm versteckt hält, ihn im unklaren über sich läßt; so daß der
Mensch im Drang zum Abschließen den dämonischen Willen, der zur offenen Herrschaft zu
kraftlos ist, hinter sich hat. Die so entstehenden, häufigen Gestalten zeigen ein Schwanken von
Offenbarkeit und Verschlossenheit:
»Die Verschlossenheit kann die Offenbarung wünschen, nur sollte diese von außen zuwege
gebracht werden, ihr also zustoßen ... Sie kann die Offenbarung wollen, bis zu einem gewissen
Grade, möchte aber einen kleinen Rest zurückbehalten, um dann die Verschlossenheit von vorn
beginnen zu lassen (dies kann bei untergeordneten Geistern der Fall sein, die nichts en gros tun
können). Sie kann die Offenbarung wollen, aber inkognito. (Dies ist der spitzfindigste Wider-
spruch in der Verschlossenheit. Indessen finden sich in Dichterexistenzen Beispiele dafür.) Die
431 Offenbarung kann schon gesiegt haben; im selben Moment aber wagt die Verschlossenheit | ei-
nen letzten Versuch und ist schlau genug, die Offenbarung in eine Mystifikation zu verwan-
deln, und nun hat sie gesiegt«'")-590 - »Die Wahrheit ist für den Einzelnen nur da, indem er selbst
handelnd sie produziert. Ist die Wahrheit auf irgendeine andere Weise für das Individuum vor-
handen und wird sie von diesem verhindert, auf diese Weise für es da zu sein, so haben wir ein
Phänomen des Dämonischen... Die Frage ist, ob ein Mensch im tiefsten Sinne die Wahrheit er-
kennen, ob er von ihr sein ganzes Wesen durchdringen lassen, alle ihre Konsequenzen anneh-
men will, und ob er nicht im Notfall für sich einen Schlupfwinkel reserviert und für die Konse-
quenz einen Judaskuß591 hat «i ii * iv).592

i VIII, 70-72.
ii V, 136.
üi V, I2Öff.
iv V, I37ff.
 
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