Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0489
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
396

Psychologie der Weltanschauungen

erschöpft und formuliert werden können, sondern mit dem Handeln und Erfahren
selbst wachsen sondern er kommt aus der lebendigen Unendlichkeit seiner Erfah-
rung und seiner Situationen zu im letzten Grunde irrationalen Entscheidungen, die
»richtig« sind nur retrospektiv, durch den Erfolg, die sehr viel Berechenbares, Zweck-
mäßiges enthalten, aber auf dem Grunde eines für andere Unberechenbaren liegen.
Man nennt es wohl Persönlichkeit, Entschlußkraft und dergleichen. Es ist das Irratio-
nale, das seine Verschiedenheit nur nach dem Kreise der Wirklichkeit hat und nach
den Kräften, die in ihm stecken, ob Ideen oder bloß vitale Zwecke. Wenn Ideen leiten,
ist der Realist in der Richtung des Dämonischen gelegen.
Wie alle substantiellen Gestalten des Lebens, ist auch diese nicht ihrem Wesen
nach, ihrem Inhalt nach begrifflich zu treffen. Hier, wie sonst, sehen wir eine Bahn,
deren Richtung wir nicht erkennen. Nur finden wir Merkmale für den psychologischen
Prozeß, in dem dieser Weg beschritten wird. Gerade wegen der Unbestimmtheit ge-
435 schehen nun fortwährend die Verwechslungen: Andere, ja | heterogene Gestalten
geben sich für solche des Realismus aus und verlangen die Wertbetonung, die dieser
Gestalt des substantiellen, lebendigen Realismus zukommt, auch für sich.
Dieser Realismus leerer Art kehrt die Sätze um: statt zu fühlen: Nur was in der Reali-
tät Gestaltung und Verwirklichung erfährt, ist wahr, fühlt er vielmehr: Alles, was real
wird, was Erfolg hat, ist wahr und dadurch allein gerechtfertigt. Statt jene dämonische
Richtung in der Realität zu verfolgen, werden die Ziele selbst der Realität entnommen,
und zwar nach den unvermeidlichen, durch die Gunst der Umstände zu befriedigenden
materiellen Interessen im weitesten Sinne. Statt einer Richtung entsteht ein Chaos von
Handlungen, die jede Chance ausnutzen in voller Abhängigkeit von der zufälligen Kon-
stellation, die ihre Richtung immer neu bestimmen und nur einen Zusammenhang er-
kennen lassen: dem Wohlsein und den Bedürfnissen des endlichen Individuums oder
seiner Gruppe zu dienen, sofern es selbst daran partizipiert. Statt nur den Zielen Recht
und Sinn zu geben, die in der Realität Gestaltungen erreichen, werden die Ziele selbst
der gegebenen Realität entnommen und infolgedessen keinerlei »Gestaltung« der Rea-
lität erreicht, sondern nur ein Fortexistieren unter zufälligen, wechselnden Bedingun-
gen. Worte Bismarcks, die als Ausdruck dämonischen, echten Realismus deutbar sind,
sind manchmal besonders leicht im Sinne eines chaotischen Realismus zu nehmen.
Diese Doppeldeutigkeit mögen folgende Sätze Bismarcks illustrieren: »Ich habe nie
nach Grundsätzen gelebt. Wenn ich zu handeln hatte, habe ich mich niemals gefragt:
Nach welchen Grundsätzen handelst du? Sondern ich habe zugegriffen und getan, was
ich für gut hielt. Man hat mir ja oft vorgehalten, daß ich keine Grundsätze habe. Wenn
ich mit Grundsätzen durchs Leben gehen soll, so komme ich mir vor, als wenn ich durch
einen engen Waldweg gehen soll und müßte eine lange Stange im Munde halten.«606
Dem chaotischen Realismus ist, weil auf derselben Ebene nur als Gegenpol beste-
hend, verwandt ein Realismus des festgeformten Gehäuses, das als absolute, endgül-
tige Realität genommen wird. Die bestehenden Einrichtungen, Besitzverhältnisse,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften