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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0502
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Psychologie der Weltanschauungen

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mit selbst endlich werden müssen. Der Prozeß der Bemächtigung der gegenständlichen
Welt ist auch zeitlich nie abschließbar zu denken. Wir erleben aber in der Tätigkeit in-
nerhalb der Subjekt-Objekt-Spaltung etwas, das darüber hinaus geht. Dieses Erleben ist
objektiv an seinen Wirkungen kenntlich: das Chaos der endlichen Gegenstände, selbst
von leerer Endlosigkeit, wird von uns erkannt, im Handeln bewältigt, indem wir aus-
wählen, Richtungen einschlagen und festhalten. So sind Welt, Seele, Leben Ideen: wir
können aber diese Ideen nie erkennen, sie sind objektiv bloß Namen für Richtungen.
Die Welt ist als Ganzes uns nicht Gegenstand, ebensowenig die Seele und das Leben.
Diese Ideen sind, wie Kant sagt, nicht gegeben, sondern aufgegeben.613 Soweit sich diese
Verhältnisse objektiv logisch fassen lassen, hat Kant sie der genauesten Analyse unter-
worfen. Eine Idee läßt sich niemals definieren, mitteilen, lehrbar machen. Sie wirkt sich
aus in systematischem Erkennen, im Handeln und Kunstschaffen, aber sie wird nie er-
reicht, und doch kommt von ihr eine gegenwärtige Erfüllung und der Sinn. Sie ist also
logisch etwas, das nur Richtung, nur regulatives Prinzip wäre, aber psychologisch ist sie
eine Kraft in uns, die an Erlebnissen mystischer subjekt-objektloser Art als Symptomen
kenntlich ist. Durch sie allein halten wir Richtung und können wir Wesentlichkeiten er-
fassen, ohne sie bleiben wir in leeren Endlosigkeiten steuerlos oder in Gewohnheiten
mechanisch. Obgleich Kant selbst fast nur vom Objektiv-logischen und Methodologi-
schen spricht, vom Erleben der Idee kaum handelt, so kommt doch diese Auffassung ei-
ner psychologischen Kraft gelegentlich deutlich zur Geltung.
Klar gegeben in ihrer Fülle wird die Idee nie. Nur formale Bestimmungen mag man
von ihr geben, wie Kant z.B. vom Leben. Näher kommt man ihr nur durch immer wei-
tere Vertiefung in die gegenständliche Welt der Endlichkeiten, die durch sie selbst für
uns Sinn und systematische Zusammenhänge haben, die nur begreifbar sind aus dem
Unbegreiflichen der Idee. Die Ideen erleben wir, diese Erlebnisse sind als spezifische
kaum zu beschreiben, sie sind nicht | notwendig intensiv, daß man sie auch nur von
weitem mit der Ekstase vergleichen dürfte, aber sie sind wirksam. Sie sind auch weder
als etwas in der Welt der Objekte für uns, noch als Moment unseres bloß subjektiven
Erlebens treffend zu beschreiben. Es sind Erlebnisse, die der Subjekt-Objekt-Spaltung
entbehren, so sehr sie auf dieser Spaltung, soweit sie jeweils gediehen ist, sich aufbauen
und selbst zu neuen klaren Spaltungen führen. Die Idee selbst wird lebendiger, wenn
sie sich immer mehr zur Klarheit bringt, d.h. Endlichkeiten in systematischer Ordnung
und handelnder Gestaltung erfaßt. Das Erlebnis der Ideen bedeutet keineswegs eine
Berührung mit irgendwelchen Dingen an sich, die Ideen hießen, erst recht keine Be-
rührung mit dem Absoluten. Vielmehr sind die Kräfte, die wachsen, Keime, die sich
entfalten, aber nicht, indem man das Erlebnis kultiviert und zum Ziel macht, sondern
indem man die Wege in das Reich des Endlichen und Gegenständlichen verfolgt. -
Nennt man die Erlebnisse der Ideen nach dem allgemeinen Merkmal, daß sie selbst
nicht in Objekt-Subjekt-Spaltung aufgehen, daß sie geheimnisvoll und unklar sind,
mystische, so ist der Gegensatz der Mystik Plotins und Kants: Plotins Mystik ist eine

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