Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0504
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Psychologie der Weltanschauungen

411

das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung dergestalt bedrängt, daß es sich kaum
zu retten weiß. Allein wir verkürzen uns an der anderen Seite wieder, wenn wir das Formende
und die höhere Form selbst in eine vor unserem äußeren und inneren Sinn verschwindende Ein-
heit zurückdrängen.«615
»Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese beiden Formen sind
es, in welchen sich alle übrigen Formen, besonders die sinnlichen offenbaren. Eine geistige Form
wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr
Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht gerin-
ger als das Zeugende; ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher
sein kann als das Zeugende.«616
Stellen wir uns die Masse der Erlebnisse mangelnder Subjekt-Objekt-Spaltung vor,
und stellen wir uns vor, daß bei einem Menschen - unbewußt oder schließlich bewußt -
auf diese auch bei ihm vorhandene Erlebnismasse eine der beiden polar entgegenge-
setzten Weltanschauungen, die in der Geschichte unter anderen von Plotin und Kant
repräsentiert werden, auswählend, fördernd, verdrängend ein|wirkt, so wird in dieser 453
Masse gleichsam eine chemische Scheidung vorgenommen: wir sehen in entwickelten,
reinen Fällen statt der einen Masse, die das Gemeinsame mangelnder Subjekt-Objekt-
Spaltung hat, zwei ganz verschiedenartige Massen: die ideenhaften Erlebnisse und die
mystischen Erlebnisse in engerem Sinne des gewöhnlichen Wortgebrauchs.
Von der mystischen Seite her werden die ideenhaften Erlebnisse vernachlässigt und
gleichgültig gefunden: sie sind zu wenig intensiv als momentane Gemütsbewegung,
als momentaner Affekt und momentane Bewußtseinsveränderung, sie geben immer
das Bewußtsein der Distanz zum Absoluten, sie weisen immer in die gegenständliche
Welt, statt aus ihr hinaus.
Von der ideenhaften Seite her werden die mystischen Erlebnisse abgelehnt: sie sind
als momentaner unübersehbarer Affekt und als Bewußtseinsveränderung zu intensiv,
sie täuschen eine vorwegnehmende Einung mit dem Absoluten vor, sind Schwärme-
rei, weisen statt in die gegenständliche Welt aus ihr hinaus.
Von der mystischen Seite her ist als letztes Kriterium die unmittelbare Evidenz und
die Leibhaftigkeit in der Einung mit dem Absoluten gegeben, von welcher Evidenz her
jeder andere Mensch, der sie nicht hat, bemitleidet wird - während der Ausdruck die-
ser Evidenz, die Art der Menschen äußerst verschiedenartig ist, wenn man sie nach ob-
jektiven Gesichtspunkten betrachtet. - Von der ideenhaften Seite her gilt es: daß an
der Fruchtbarkeit, an ihren Folgen für Schöpfung und Bemeisterung und Formung der
gegenständlichen Welt die Erlebnisse ihr Kriterium haben. Von da aus erscheint das
Mystische als Selbstgenuß, als tötend, als nihilistisch.
Dem Mystiker gilt der Zustand, dem Ideenhaften die Aufgabe, dem Mystiker Auf-
lösung und Sichvernichten, dem Ideenhaften Werden und Sein.
Ob der Weg der Mystik und der Weg der Idee einseitige Verabsolutierungen sind, die
erst in Synthese das Ganze der menschlichen Substanz ausmachen, läßt sich nicht be-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften