Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0506
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Psychologie der Weltanschauungen

413

sich selbst zurückzieht. Sein eigentliches Leben ist außerhalb der Welt, in den Zustän-
den vom Gebet bis zur Ekstase. Seine Seligkeit | ist um so größer, je weniger Inhalt sein 455
Leben hat, das heißt je weniger Gegenständlichkeit darin ist. Aber diese Seligkeit ist
nicht Bewußtseinsleere, sondern eine unendliche Fülle, von der aus gesehen ihm alles
Gegenständliche, die ganze Welt nichts ist. Diese Fülle ergreift und prägt ihn, so daß er
tatsächlich bis zum Zugrundegehen in der diesseitigen Existenz seine Gleichgültigkeit
gegen sie beweist. Zeit und Entscheidung in der Zeit haben wie alles Endliche keine Be-
deutung. Die Existenz des Mystikers ist zeitlos und ewig. Den Ausdruck findet dieses
Dasein in Bildern, Paradoxien, Lehren von negativem Inhalt (Verneinung alles Endli-
chen), in der Lebensführung und dem Habitus der Persönlichkeit. Aller Ausdruck muß
indirekt sein, wie beim Ausdruck der Idee; aber dazu undurchsichtig, unklar, dunkel,
von zügelloser Symbolik. Denn Klarheit gibt es nur im Endlichen, nur hier gibt es die
Wege zur immer größeren Klarheit der Kommunikation zwischen Menschen.
Zur Illustration seien Beispiele lehrhaften Ausdruckes gegeben und dann ein Bei-
spiel einer individuellen mystischen Lebensführung.
Laotse')617 lehrt vom »Nichthandeln«:
»Die Welt erobern wollen durch Handeln:
Ich habe erlebt, daß das mißlingt.
Die Welt ist ein geistiges Ding,
Das man nicht behandeln darf.
Wer handelt, verdirbt sie.
Wer festhält, verliert sie ...«
Von Laotse ist ergreifend geschildert worden, wie der Einzelne die Unruhe des
nicht Vereinigten erlebt. Er hat noch nicht die zuverlässige, die Totalität des Menschen
erfassende mystische Vereinigung, aber die gegenständlichen Unterscheidungen und
Begrenzungen lehnt er schon ab. Notwendig gerät er dadurch in Gegensatz zur Menge,
die in ausgebreiteter, klarer Gegenständlichkeit lebt und die Wurzel des Absoluten ver-
loren hat. Als endlicher Mensch gehört er aber zugleich zu dieser Menge und leidet un-
ter seiner Isolierung. Die Stelle lautet:
»Was aber alle verehren, das darf man nicht ungestraft beiseite setzen.
O Einöde, habe ich noch nicht deine Mitte erreicht?
Die Menschen der Menge sind strahlend, wie bei der Feier großer Feste,
Wie wenn man im Frühling auf die Türme steigt:
Ich allein bin unschlüssig, noch ohne Zeichen für mein Handeln,
Wie ein Kindlein, das noch nicht lachen kann!
Ein müder Wanderer, der keine Heimat hat!
Die Menschen der Menge leben alle im Überfluß:
Ich allein bin wie verlassen!
Wahrlich, ich habe das Herz eines Toren!

Übersetzung von Wilhelm.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften