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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0516
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Kants Ideenlehre

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Unsere Erkenntnis entspringt nach Kant aus dem Zusammenwirken von drei Vermö-
gen: der Sinnlichkeit, dem Verstände, der Vernunft. Die Sinnlichkeit gibt uns die An-
schauung, das Materiale überhaupt, der Verstand die Formen, in denen der endlose
Stoff synthetisch zu Gegenständen wird. In ihnen wird das Anschauliche in Katego-
rien, z.B. Substanz, Kausalität, zu Gegenständen vereinheitlicht. Diese Formen heißen
auch Begriffe, und es gilt der Satz: Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauun-
gen ohne Begriffe sind blind.623 Alles Gegenständliche besteht aus Form und Material;
das eine ohne das andere ist nichtig.624 Alle unsere Erkenntnis beginnt mit Anschau-
ung vermöge der Sinnlichkeit, kommt zu Begriffen vermöge des Verstandes und en-
digt mit Ideen vermöge der Vernunft.625
In der Konsequenz dieser Eehre liegt es, daß nach Kant Erkenntnis nur so weit
reicht, als Erfahrung reicht, d.h. als die Begriffe durch Anschauungen restlos erfüllbar
sind. Kant läßt ein Erkennen von Gegenständen nur da zu, wo der materiale Inhalt von
Begriffen in der Anschauung entweder gegeben wird oder doch in einer möglichen Er-
fahrung gegeben werden kann. Nun besitzt die menschliche Vernunft, das dritte Er-
kenntnisvermögen, ganz andersartige Begriffe, die Kant Ideen nennt, deren Material
in keiner möglichen Anschauung oder Erfahrung gegeben werden kann. Es sind z.B.
die Ideen von Seele, Welt, Gott. Sie können nicht anschaulich gegeben werden, weil
sie sich auf das Ganze beziehen, während der Anschauung immer nur Einzelnes gege-
ben wird; weil sie sich auf das Unbedingte beziehen, während alles Anschauliche in
der Reihe des Bedingten steht; weil sie sich auf das Unendliche beziehen, während al-
ler Inhalt unserer Anschauung endlich ist. In den Ideen werden darum keine Gegen-
stände erkannt. Die Bemühungen, aus metaphysi|schem Bedürfnis trotzdem eine Er-
kenntnis von Gegenständen der Ideen (der Seele, der Welt im ganzen, Gottes) zu
gewinnen, verwickeln sich entweder in Paralogismen, Trugschlüsse, in denen ein Wort
für zwei verschiedene Begriffe gebraucht wird (das rein formale »Ich denke« mit einem
anschaulichen Subjekt, das sehr große Mannigfaltigkeit in sich enthält, identisch ge-
setzt wird); oder sie verwickeln sich in Antinomien, in welchen vom selben Gegen-
stand Entgegengesetztes mit gleicher Evidenz bewiesen wird (z.B. »die Welt ist unend-
lich« und »die Welt ist endlich«); oder schließlich sie verwenden die trügerische
Methode, aus dem Wesen eines Begriffs auf die Existenz seines Gegenstandes zu schlie-
ßen (im ontologischen Gottesbeweis).
Obwohl diese berühmte Vernichtung aller Metaphysik im Vordergründe des Inter-
esses der KANT-Interpreten stand, hat man auch eine positive Bedeutung, die Kant den

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