Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0527
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
434

Kants Ideenlehre

eigenschaften als anschaulich zusammen, so gibt es zwei Arten von Anschaulichkeit:
die materielle, stoffgebende, die Kant allein anschaulich nennt, und die bloß erlebte,
nicht erfaßte, die hinweisende, Kraft und Bewegung gebende, die ideenhaft heißt.
Obwohl die Ideen nicht direkt zu erfassen und zu erkennen sind, ist doch eine di-
rekte Beschäftigung mit ihnen möglich, wie z.B. in der Kantischen, hier dargestellten
Ideenlehre. Es ist eine kontemplative Hinwendung auf die Kräfte, die in den Einzelbe-
wegungen des Lebens fühlbar sind. Diese Hinwendung ist gleichsam außerhalb der
Ideen, verantwortungslos, ihnen bloß zusehend. Sie ist kein eigentliches direktes Er-
fassen - das ist überall unmöglich -, sondern eine reflektierte Intention darauf, daß
hier so etwas existiert. Es bleibt im Grunde ein Drumherumreden; sofern dieses einen
bestimmteren Charakter annimmt, ist immerfort schon von einer einzelnen Manife-
station der Idee die Rede. Verfolgen wir diese bestimmteren Charakteristiken der Ideen
bei Kant, so sehen wir sie drei Bedeutungen annehmen, die von Kant nicht scharf ge-
trennt und insofern an sich nicht trennbar sind, als man beim Analysieren konkreter
ideenhafter Erscheinungen zwischen diesen drei Bedeutungen unvermeidlich hin-
und hergeht. Diese drei Bedeutungen sind:
Die klarste Bedeutung ist die methodologische: die im Laufe der theoretischen Er-
kenntnis das Systematische, die Schemata, die heuristischen Fiktionen in ihrer metho-
dischen Verwendung zeigt. Die zweite Bedeutung ist eine subjektive oder psychologische:
die Ideen als Kräfte, als Keime, als Prozesse im Subjekt. Die dritte Bedeutung ist eine
objektive oder metaphysische: Die Ideen sind nicht bloß technische Kunstgriffe und psy-
chologische Kräfte, sondern müssen irgendwie eine Bedeutung in der urbildlichen
Welt der Gegenstände selbst haben.
Immer bleibt die Erörterung der Ideen ein Drumherumgehen, eine bloße Intuition
auf das Letzte, die ganz unwesentlich ist gegenüber der Existenz in den Ideen, d.h. hier
bei den theoretischen Ideen: gegenüber dem Erkennen unter Leitung der Ideen. Und
doch ist eine solche Intention, ein solches Anstoßen an die Grenzen, mehr als gar
nichts, etwas anderes, wenn auch unvergleichlich Unerheblicheres als darin zu leben.
Die drei Bedeutungen der Idee sind nun nach Kant noch etwas genauer zu entwickeln.

174 11. Die psychologische Bedeutung
Kant schreibt: »Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne
daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein in der Ausarbeitung derselben entspricht
das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich zu Anfang von seiner Wissenschaft
gibt, sehr selten seiner Idee; denn diese liegt, wie ein Keim, in der Vernunft, in welchem
alle Teile noch sehr eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beobachtung kenn-
bar, verborgen liegen. Um deswillen muß man Wissenschaften ... nicht nach der Be-
schreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man
aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft
selbst gegründet findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften