Kants Ideenlehre
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Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich
selbst nicht haben deutlich machen... können. Es ist schlimm, daß nur allererst, nach-
dem wir lange Zeit nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee rhapsodi-
stisch viele dahin sich beziehende Erkenntnisse als Bauzeug gesammelt... es uns dann
allererst möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken ... Die Systeme scheinen
wie Gewürme, durch eine generatio aequivoca642 aus dem bloßen Zusammenfluß von
auf gesammelten Begriffen, anfangs verstümmelt, mit der Zeit vollständig gebildet wor-
den zu sein, ob sie gleich alle insgesamt ihr Schema als den ursprünglichen Keim in
der sich bloß auswickelnden Vernunft hatten ,..«i ii)643 Hierhin gehört auch Kants Satz,
es sei »gar nichts Ungewöhnliches ..., durch die Vergleichung der Gedanken, welche
ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich
selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bis-
weilen seiner eigenen Absicht entgegenredete oder auch dachte«").644
Man spricht bei Erkenntnissen nicht nur von ihrer Richtigkeit, sondern auch von
ihrer Wichtigkeit. Man spricht von dem Wert von Wahrheiten (d.h. nicht von dem
Wahrheitswert, der für die Auffassung besteht, nach der jede Wahrheit, insofern sie
gilt, einen Wert repräsentiert, sondern von dem Wert der Wahrheiten, die jenen blo-
ßen Geltungswert oder Richtigkeitswert schon besitzen). Dieser Wert | kann ein be- 175
stimmbarer sein, z.B. ein ökonomischer für praktische Verwertung der Erkenntnis; er
kann auf persönlichem Interesse für ein Stoffgebiet beruhen; er kann bestimmt sein
dadurch, daß eine Erkenntnis als bloßes Mittel für eine andere Erkenntnis verwertet
wird, bei welcher die Frage nach dem Wert aber wiederum problematisch bleibt. Se-
hen wir von jenen bestimmbaren Werten ab, so bleiben bei aller Wissenschaft zuletzt
diese unbestimmbaren übrig und entscheidend. Man spricht dann auch von Tiefe und
von Flachheit und kann diese Wertungen nie begründen oder gar beweisen, sondern
nur suggestiv nahelegen. Was hier im Urteil wirkt, sind die Ideen. Wie sie als versteckte
Keime in der Vernunft wirksame Kräfte bei der Forschungsarbeit des Einzelnen sind,
wie der Einzelne in ihnen lebt, ohne sie direkt zu erkennen, so beurteilt er, ohne es
recht begründen zu können, nach ihrem instinktiv gefühlten Gegenwärtigsein in wis-
senschaftlichen Arbeiten deren Tiefe oder Flachheit.
Es ist merkwürdig, daß wir in der Wissenschaft volle Durchsichtigkeit und Klarheit
wollen, und daß doch, wenn diese bis zum Letzten vorhanden ist, unser Interesse er-
lahmt. Wir wollen Klarheit, aber wir wollen, daß sie der teilweise Ausdruck einer Idee
sei. Diese Idee ist in der wissenschaftlichen Leistung als das Dunkel vorhanden, das
ebensosehr verständnislosen Angriffen ausgesetzt wie Bedingung ihrer produktiven
Wirkung ist. Die Vernunft will nicht etwa Unklarheit, sondern Idee. Sie sträubt sich
gegen das Pathos, das das Dunkel als Dunkel sucht, ebensosehr wie gegen das Pathos
i B. 862ff.
ii B. 370.
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Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich
selbst nicht haben deutlich machen... können. Es ist schlimm, daß nur allererst, nach-
dem wir lange Zeit nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee rhapsodi-
stisch viele dahin sich beziehende Erkenntnisse als Bauzeug gesammelt... es uns dann
allererst möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken ... Die Systeme scheinen
wie Gewürme, durch eine generatio aequivoca642 aus dem bloßen Zusammenfluß von
auf gesammelten Begriffen, anfangs verstümmelt, mit der Zeit vollständig gebildet wor-
den zu sein, ob sie gleich alle insgesamt ihr Schema als den ursprünglichen Keim in
der sich bloß auswickelnden Vernunft hatten ,..«i ii)643 Hierhin gehört auch Kants Satz,
es sei »gar nichts Ungewöhnliches ..., durch die Vergleichung der Gedanken, welche
ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich
selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bis-
weilen seiner eigenen Absicht entgegenredete oder auch dachte«").644
Man spricht bei Erkenntnissen nicht nur von ihrer Richtigkeit, sondern auch von
ihrer Wichtigkeit. Man spricht von dem Wert von Wahrheiten (d.h. nicht von dem
Wahrheitswert, der für die Auffassung besteht, nach der jede Wahrheit, insofern sie
gilt, einen Wert repräsentiert, sondern von dem Wert der Wahrheiten, die jenen blo-
ßen Geltungswert oder Richtigkeitswert schon besitzen). Dieser Wert | kann ein be- 175
stimmbarer sein, z.B. ein ökonomischer für praktische Verwertung der Erkenntnis; er
kann auf persönlichem Interesse für ein Stoffgebiet beruhen; er kann bestimmt sein
dadurch, daß eine Erkenntnis als bloßes Mittel für eine andere Erkenntnis verwertet
wird, bei welcher die Frage nach dem Wert aber wiederum problematisch bleibt. Se-
hen wir von jenen bestimmbaren Werten ab, so bleiben bei aller Wissenschaft zuletzt
diese unbestimmbaren übrig und entscheidend. Man spricht dann auch von Tiefe und
von Flachheit und kann diese Wertungen nie begründen oder gar beweisen, sondern
nur suggestiv nahelegen. Was hier im Urteil wirkt, sind die Ideen. Wie sie als versteckte
Keime in der Vernunft wirksame Kräfte bei der Forschungsarbeit des Einzelnen sind,
wie der Einzelne in ihnen lebt, ohne sie direkt zu erkennen, so beurteilt er, ohne es
recht begründen zu können, nach ihrem instinktiv gefühlten Gegenwärtigsein in wis-
senschaftlichen Arbeiten deren Tiefe oder Flachheit.
Es ist merkwürdig, daß wir in der Wissenschaft volle Durchsichtigkeit und Klarheit
wollen, und daß doch, wenn diese bis zum Letzten vorhanden ist, unser Interesse er-
lahmt. Wir wollen Klarheit, aber wir wollen, daß sie der teilweise Ausdruck einer Idee
sei. Diese Idee ist in der wissenschaftlichen Leistung als das Dunkel vorhanden, das
ebensosehr verständnislosen Angriffen ausgesetzt wie Bedingung ihrer produktiven
Wirkung ist. Die Vernunft will nicht etwa Unklarheit, sondern Idee. Sie sträubt sich
gegen das Pathos, das das Dunkel als Dunkel sucht, ebensosehr wie gegen das Pathos
i B. 862ff.
ii B. 370.